Wie gut Katzen sehen können, weiß eigentlich jeder. Welche Fähigkeiten die Natur dem Auge des Pferdes mitgegeben hat, ist jedoch vielen eher unbekannt. Dabei haben diese es wirklich in sich: Das Pferd sieht in einem Winkel von 330 Grad alles um sich herum – und das sogar in der Dunkelheit
Text: Julia Schay-Beneke, Foto: Slawik
Raubtiere wie Pumas oder Wölfe sind Jäger, das Pferd ist die Beute. Die Evolution hat die Rollen vor vielen, vielen Jahren klar verteilt, auch wenn sich diese heutzutage längst verschoben haben. Für die den Tieren zugedachten Rollen waren seinerzeit jedenfalls bestimmte Fähigkeiten unverzichtbar. Wer überleben wollte – also die Beute –, musste ständig auf der Hut sein. Jede kleine Bewegung wurde registriert und ausgewertet, die Entscheidung musste im Bruchteil einer Sekunde fallen: Flucht oder nicht? Ohne ein Sehvermögen, das sich deutlich von dem der Menschen unterscheidet, hatten Pferde keine Chance. Gefahren lauerten in der Dunkelheit, schlichen sich von hinten an – also versah die Natur sie mit den entsprechenden Augen. Aber was können diese eigentlich genau?
Die – im Vergleich zu anderen Tieren –sehr großen Augen der Pferde sitzen seitlich am Kopf. Das ermöglicht ihnen schon von der Anatomie her einen komplett anderen Blickwinkel als der des Menschen – für ein Fluchttier in vielerlei Hinsicht von Nutzen. Die Position der Augen bewirkt zum Beispiel, dass Pferde fast eine komplette Rundumsicht nach vorne, zur Seite und nach hinten haben. Ihr Gesichtsfeld hat etwa 330 Grad, während das Auge des Menschen primär nach vorne gerichtet ist und dementsprechend ein Gesichtsfeld von nur etwa 200 Grad hat. Pferde hingegen haben nur wenige tote Winkel, in denen sie nichts sehen. Einer liegt direkt hinter ihnen, weswegen zum Beispiel Kindern bis heute geraten wird, sich Pferden nur von der Seite her zu nähern. Sie können diesen Winkel aber mit einer leichten Drehung des Kopfes einsehen – was den Menschen niemals gelingt, so sehr er sich auch den Hals verrenken würde.
Rundumblick – fast wie ein Uhu
Mit diesem Panoramablick kann das Pferd praktisch alles, was sich in seiner Umwelt abspielt, erfassen. Da es idealtypisch den Großteil seiner Zeit auf der Weide verbringt und mit gesenktem Kopf grast, kann es dabei, ohne den Kopf extra anzuheben, registrieren, was in seinem Umfeld passiert. Früher hat es so rechtzeitig bemerkt, wenn sich ein Feind angeschlichen hat, und konnte seine typischen Fressgewohnheiten beibehalten. Gleichzeitig hat es seine Artgenossen im Blick, erkennt Verhaltensänderungen und kann sich dementsprechend anpassen. Gegenüber dem Menschen besteht hier noch ein weiterer wichtiger Unterschied: Das Pferd sieht monokular. Das bedeutet, dass jedes Auge ein eigenes Blickfeld hat und in eine andere Richtung schauen kann – bei Menschen undenkbar, hier müssen beide Augen exakt in die gleiche Richtung zeigen, wenn man nicht schielt oder eine andere Sehschwäche hat.
Forscher vermuten, dass Pferde die dabei entstehenden Bilder nicht einfach im Gehirn übereinanderlegen, andernfalls hätte diese Fähigkeit keinen Sinn. Das bedeutet, dass sie mit jedem Auge nur zweidimensional und nicht räumlich sehen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass jedes Auge mit einer Gehirnhälfte verbunden ist: das rechte Auge mit der linken Gehirnhälfte und umgekehrt. So lässt sich zum Beispiel erklären, dass das Pferd mit dem rechten Auge eine Gefahr wahrnimmt und diese als ungefährlich einstuft. Das Gehirn speichert dies jedoch auch nur für eine Seite ab. Kommt man von der anderen Seite an diesem Gegenstand vorbei, beginnt das Spiel von Neuem und es kann passieren, dass das Pferd hier scheut. Die Gehirnhälften haben dabei zum Teil sehr unterschiedliche Funktionen: Offenbar reagieren Pferde häufiger auf dem linken Auge schreckhaft, da dieses mit der emotionalen Gehirnhälfte verbunden ist.
…Mehr zum Thema „wie Pferde sehen“ lesen Sie in der Ausgabe 03/17 der Mein Pferd!