Viele Reitställe sehen auf den ersten Blick nicht verletzungsträchtig aus. Nur bei genauerem Hinsehen erkennt man hervorstehende Nägel, Stromlitzen ohne Funktion oder scharfe Kanten. Tierarzt Dr. med. vet. Henning Achilles erklärt, wie der Pferdebesitzer drohende Gefahren erkennen kann
Bei uns ist noch nie etwas passiert“, so lautet die gängige Aussage, wenn es um die Sicherheit im Pferdestall geht. Stallbetreiber und Pferdebesitzer wähnen sich in Sicherheit; einer trügerischen Sicherheit. Denn Routine macht nachlässig. Mögliche Gefahren werden übersehen. Höchste Zeit, mit offenen Augen und kritischem Blick durch den Reitstall zu gehen.
Denn Verletzungen passieren auf der Weide genauso wie im Stallbereich. „Nageltritte, Schlagverletzungen, Sturzverletzungen auf dem Pflaster, Fleischwunden durch Koppeltore und abgebrochene Tränken – das habe ich dieses Jahr alles schon gehabt. Pferde sind leider Meister im Sich-selbst-Verletzen“, sagt Tierarzt Dr. med. vet. Henning Achilles, der im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg eine Tierarztpraxis betreibt.
Von Instinkten gesteuert
Die Ursache dafür liegt in den natürlichen Verhaltensmustern der Tiere begründet. Trotz Domestikation sind sie immer noch stark von Instinkten und Trieben gesteuert. „Pferde sind Fluchttiere. Bei Panik und Gefahr kennen sie nur eine Lösung: wegrennen, und zwar schnell, egal, was sich ihnen in den Weg stellt. Die wenigsten verhalten sich in Notsituationen ruhig und besonnen. Rinder hingegen bleiben erst einmal stehen und beäugen kritisch die mögliche Gefahr. Esel beäugen die Gefahr noch kritischer und schalten meist den geordneten Rückwärtsgang ein“, so der Experte.
Heikel wird es vor allem dann, wenn die Vierbeiner gemeinschaftlich ausbrechen und im Herdentrieb durchgehen. Laufen Sie auf Straßen, nehmen sie die Gefahr, die durch Autos ausgeht, nicht wahr. Fatal – sowohl für die Tiere als auch für die Autofahrer. Pferde erkennen von Menschenhand geschaffene Gefahren und damit für sie gefährliche Situationen einfach nicht. Dazu zählen nicht nur Fahrzeuge, sondern auch hervorstehende Nägel, scharfe Kanten, spitze oder abgebrochene Gegenstände, herumstehende Gerätschaften usw., an denen sie sich verletzen oder mit dem Halfter hängen bleiben könnte. „Wenn das Pferd mit seinen Mähnenhaaren an einer kleinen Schraube hängen bleibt, ist bereits Vorsicht geboten“, warnt Dr. Henning Achilles. Er berichtet von einem Pony, das sich an solch einem Gegenstand fast die halbe Unterlippe weggerissen hat. Hier muss der Pferdebesitzer präventiv eingreifen. „Er ist für sein Tier verantwortlich. Er muss sich in das Pferd hineinversetzen, mit den Augen eines Pferdes sehen, denken wie ein Pferd und vorbeugend eine drohende Gefahr in seiner Umgebung erkennen und abwenden. Wir sollten die Intelligenz haben, Verletzungsrisiken von ihm fernzuhalten“, meint der Experte.
Riskante Liegeposition
Besonders dramatisch kann ein Festliegen in einer zu kleinen Box sein. Jeder Reiter hat schon einmal von einem Pferd gehört, das ohne fremde Hilfe nicht mehr aufstehen konnte. Ein Liegenbleiben klingt im ersten Moment gar nicht so schlimm. Doch die geliebten Vierbeiner können nicht lange in ein- und derselben Liegeposition verharren, ohne Folgeschäden davonzutragen. Durch das hohe Eigengewicht treten bei einer ungünstigen Lage und Körperposition Schädigungen der inneren Organe auf. In Rückenlage drücken beispielsweise die Baucheingeweide vermehrt auf Herz und Lunge.
Durch ein längeres Liegen in einer unnatürlichen Position sind zudem temporäre oder dauerhafte Lähmungserscheinungen durch abgeklemmte Nervenbahnen und entzündete Muskelverschläge möglich. Stark gefährdet sind die Nerven im Bereich des Kopfes und der Beine, da diese Bereiche mit nur wenig Muskelmasse „gepolstert“ sind, sowie die Nerven und Muskeln im Bereich des Rückens. Als Folge von Befreiungsversuchen können Erschöpfungszustände bis hin zu Herzversagen auftreten. Davon sind nervöse Vierbeiner, die leicht in Panik geraten, eher betroffen. Kurzum: Je länger das Festliegen andauert, je ungeschickter die Körperposition und je unruhiger das Pferd ist, desto größer sind die möglichen Schädigungen.
Gefahr durch Gitterstäbe
Daneben kommt es häufig zu Verletzungen durch ein Austreten mit den Hinterhufen. „Pferde treten durch alte Holzwände, Fensterscheiben oder Stalltüren. Letztere können nach einem Tritt nach unten nachgeben und wie eine Mausefalle zuschnappen“, gibt Achilles zu bedenken. Gitterstäbe können ebenfalls zu einer Gefahr werden. „Hufe mit Hufeisen verfangen sich beim Wälzen in den Stäben. Zu große Gitterabstände in Laufställen verleiten die Tiere dazu, sich hindurchzuzwängen, und dann bleiben sie mit Brust und Hüfte stecken“, zählt der Tierarzt weitere Notsituationen auf.
Hängt ein Pferd mit einem Bein in den Gitterstäben fest, fängt es oft an, zu toben und zu randalieren. „Da kommen Sie als Pferdebesitzer nicht heran. Auch ich als Tierarzt muss warten, bis das Pferd stillhält, um ihm ein sedatives Mittel zu verabreichen“, erklärt der Experte. Wer in einer solchen Notlage nicht auf die Feuerwehr warten will, sollte die Gitterstäbe mit einem langen Hebel (z.B. Scherenheber oder Spreizer) auseinanderdrücken. Auch auf der Weide herrscht Gefahrenpotenzial. „Stacheldrahtwunden sind zum Glück sehr selten geworden, aber Strangulationen in der Litze – meist, wenn diese ungenügend gespannt ist oder nicht unter Strom steht – sehe ich oft. Insbesondere strangförmige Litzen oder glatte Drähte sind verletzungsträchtig. Sie schneiden alles bis zum Knochen durch und reißen unter Zug nicht“, warnt der Experte. Einige Pferde spielen mit einer funktionslosen Litze und nehmen diese ins Maul. Wenn sie sich dann erschrecken und den Kopf hochreißen, sind Zahnfrakturen eine häufige Folge. Er empfiehlt daher, für den Pferdezaun immer zu einer Breitbandlitze zu greifen. Außerdem sollten Stromquellen mit Hausanschluss auch weit entfernt noch ihre Wirkung zeigen. „Pferde spüren die Stromspannung auf 20 bis 30 Zentimeter Entfernung und wissen daher sofort, wann der Strom an- oder abgeschaltet ist“, merkt Achilles an.
Weidetore entschärfen
Es lohnt sich, zusätzlich einen kritischen Blick auf die Weidetore zu werfen. Hervorvorstehende Rohrteile würden wie eine Stanze wirken, wenn mehrere Pferde sich durch den Engpass hindurchdrängelten und dagegenliefen, so der Tierarzt. Überprüfen Sie vor allem die Verschlüsse und entschärfen Sie diese – falls nötig – mit einem Tennisball oder einer aufgeschweißten Metallkugel. Bei Pfählungswunden sind die vierbeinigen Patienten nämlich in der Regel klinikpflichtig. Achten Sie ferner auf lose oder abgebrochene Latten und auch auf Nägel, die aus der Einzäunung hervorstehen.
Verletzungsträchtige Weidestellen sollten ausgezäunt werden. Insbesondere bei Gräben heißt es oft: „Ach, die Pferde kennen die doch seit Jahren.“ Und trotzdem passieren genau hier immer wieder Unfälle. Auch wenn Gräben vielleicht nicht tief sind, kann es passieren, dass die Tiere aus eigener Kraft nicht herauskommen. Die unnatürliche Körperlage macht es ihnen schwer, sich wieder aufzurichten. Zusätzlich saugt sich das Fell beim Hereinfallen regelrecht mit Schlamm voll, was ihre Lage nochmals verschlimmert. „Sie verlieren im Wasser immense Wärme, manchmal entstehen Muskelschäden, die irreparabel sind“, warnt der Tierarzt. Ein Pferd, das im Wasser gefangen ist, benötigt eine Decke und muss warmgehalten werden. Danach sollte es mit wohltemperiertem Wasser abgeduscht oder mit Stroh abgerieben werden, rät er. Ist es nicht in der Lage zu stehen, rollen Sie es auf eine alte Lkw-Plane. „Acht bis zehn Leute können ein Pferd so über eine gewisse Strecke ziehen oder tragen, je nachdem, wie schwer es ist.“
Text: Inga Dora Schwarzer Foto: Getty images