„Setzen, sechs!“ war gestern. In Niedersachsen an der Schule Marienau gibt es seit diesem Jahr eine Neuheit – das Abitur im Fach Reiten. Hier werden die Schüler individuell gefördert und freuen sich sogar auf ihre anstehenden Prüfungen
Text: Jessica Classen | Fotos: Daniel Elke


Wir parken unter einem Baum an einer Allee, steigen aus, und das Erste, was wir bemerken, ist diese Stille. Es ist sehr ruhig. Idyllisch. Ob wir hier richtig sind? Immerhin sollten wir zur Schule Marienau (Niedersachsen) fahren und hätten jetzt eigentlich mit lauten Rufen und vielen spielenden Kindern oder Jugendlichen gerechnet, die sich in Gruppen unterhalten. Aber noch während wir durch das Tor gehen und uns wundern, ob das Navi uns den richtigen Weg gewiesen hat, ertönt eine laute Schulglocke, an den verschiedenen Gebäuden öffnen sich die Türen, und Scharen von Kindern und Jugendlichen kommen herausgerannt und verteilen sich auf dem Schulhof und dem anliegenden Parkgelände.
Am Eingang zum Sekretariat treffen wir dann auch auf Frau Raslan-Alaoui, die uns zu den Ställen begleiten wird. Dort werden uns Lotteund Stella erwarten. „Die beiden Mädchen freuen sich schon, Ihnen die Pferde vorstellen zu dürfen“, erzählt die Mitarbeiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Schule, Rana Raslan-Alaoui. „Beide Mädchen nehmen schon seit längerer Zeit an der Reit-AG teil und sind sehr aktiv. Sie kümmern sich sehr liebevoll um die Pferde.“

Die Reit-AG

Als wir auf den Stall, der ein Aktivstall ist, zugehen, sehen wir die beiden Mädchen bereits bei den Pferden stehen. Bei ihnen ist ihre Reitlehrerin Jule Drögemüller. Gemeinsam machen sie die Pferde für die Reitstunde fertig – putzen, flechten, satteln, alles machen die Mädchen gerne. Die Hauptsache ist, dass sie sich jedes Mal um „ihre“ Pferde kümmern dürfen. Die Pferde sind zwar Schuleigentum, allerdings hat jeder Schüler ein Pferd, das ihm besonders am Herzen liegt und um das er sich gerne kümmert. „Die Pferde fungieren auch als Therapiepferde“, erklärt Jule. „Viele Kinder haben anfangs Heimweh, aber sobald sie sich um ein Tier kümmern dürfen, ist es ganz schnell vergessen, denn sie haben eine Aufgabe, die sie voll und ganz einnimmt.“ Und Rana Raslan-Alaoui erklärt weiter: „Tiere haben immer schon zum Konzept von Marienau gehört. Egal, ob Schafe, Hühner, Kaninchen, Pferde oder auch die Hunde unserer Schulleiterin Frau Elz oder der anderen Lehrer – die Kinder freuen sich, wenn sie sich um diese Tiere kümmern dürfen.“ Später wird Frau Elz uns zudem erklären, dass es zum pädagogischen Konzept der Schule gehört, dass die Kinder früh lernen, Verantwortung zu übernehmen – „Und sei es nur für eine Stunde, während sie mit einem Hund spazieren gehen.“
Auch andere Schüler nehmen immer wieder gerne an den Reitstunden bei Jule teil. „Es kommen ungefähr zwei bis drei Mal im Jahr auch ehemalige Schüler zu uns, die die Pferde besuchen“, erzählt Rana Raslan-Alaoui. „Lucy-Lou, unser Kaltblut-Haflinger-Mix, wurde damals extra für einen Schüler namens Jakob gekauft. Er hatte sie mit ausgesucht, da er in der Pubertät einen großen Schub gemacht hatte und für unsere anderen Ponys zu klein war. Jakob ist auch heute noch die Bezugsperson für Lucy-Lou, und man merkt beiden an, wie sehr sie sich freuen, wenn er sie besuchen kommt.“

Abitur im Sattel

Das Reit-Abitur ist auf Marienau ab dem Jahr 2018 möglich. „Reiten wird während des Sportabiturs geprüft“, erklärt Sportlehrer Andreas Knust. „Es gibt drei Prüfungsteile: zwei praktische und einen theoretischen. Die Praxis unterteilt sich in eine Individualsportart und eine spielerische.“ In diesem Fall wäre Reiten dann die Individualsportart. Ob die Schüler in Dressur oder Springen geprüft werden möchten, dürfen sie selbst entscheiden. „Wichtig ist, dass die Schüler individuell gefördert werden, und zwar in dem Fach, in dem sie gut sind“, erläutert der Sportlehrer weiter. „Dabei ist es auch wichtig, dass die Schüler regelmäßig an Turnieren teilnehmen, so lernen sie, mit den Prüfungssituationen umzugehen.“ Dafür werden sie sogar extra vom Unterricht freigestellt.
Die Schüler haben dank der Turniere eine genaue Prüfungssituation vor sich, weil für das Abitur ebenfalls Richter und Lehrer eine Aufgabe beziehungsweise einen Parcours für sie heraussuchen und sie darin prüfen werden. „Trotzdem ist es vor allem der Spaß, der sowohl für die Schüler als auch für die Lehrer im Vordergrund steht“, sagt Rana Raslan-Alaoui. Und das sieht man den beiden Mädchen beim Training mit Jule und „ihren“ Pferden auch an.


Weitere Infos finden Sie hier: www.marienau.com

 

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