Interview: Inga Dora Schwarzer       Foto: Getty Images/Westend61

Pferde sind Steppen-, Herden, Flucht- und Beutetiere und zeigen dementsprechende Verhaltensweisen. Für den Reiter ist es wichtig zu verstehen, warum es so und nicht anders reagiert. Je mehr er über die Bedürfnisse weiß, desto eher kann er unerwünschtes Verhalten verhindern und für Wohlbefinden sorgen. In einer achtteiligen Interviewreihe mit Verhaltenstherapeutin Susanne Grun (www.horselearningbysusn.com) schauen wir uns nach und nach verschiedene Verhaltensweisen genauer an – dieses Mal steht Fortbewegungsverhalten im Fokus.

 

Welche Verhaltensweisen gehören dazu?

Das Pferd hat von Natur aus das Bedürfnis, sich zu bewegen. Allein bei der Nahrungsaufnahme bewegt es sich im Schritt langsam vorwärts, was bekanntlich 12–16 Stunden des Tages betrifft. Das Pferd ist ein Beutetier, und als solches kann es kurzfristig hohe Geschwindigkeiten erreichen, denn sein Verhalten bei Gefahr besteht in der Flucht (Fluchttier). Diese Verhaltensweisen sollten wir bei unserer Pferdehaltung immer berücksichtigen. Die Pferde sollten also (bis auf wenige Ausnahmen) in Gruppenauslaufhaltung gehalten werden, wo sie sich ihrer Natur entsprechend frei bewegen können. Ein Wildpferd legt täglich während der ca.16 Stunden Nahrungsaufnahme etwa acht Kilometer zurück. Zum Vergleich: Ein Boxenpferd bewegt sich etwa eine Stunde am Tag und legt mit einer vergleichsweise kleinen Schrittlänge von 30 Zentimetern (Wildpferde haben eine Schrittlänge von etwa 80 Zentimetern) gerade einmal 170 Meter zurück. Dies ist für ein Pferd absolut nicht artgerecht.

Unsere Pferde verfügen also als Pflanzenfresser und Fluchttiere über einen angeborenen kontinuierlichen Fortbewegungstrieb, genetisch verbunden mit dem Fresstrieb. Ganz egal, wie das Pferd gehalten wird, es sollte meiner Meinung nach sich täglich und unabhängig von der Nutzung und der Bewegung unter dem Sattel mindestens zwei Stunden möglichst in der Gruppe bei frischer Luft frei bewegen können. Nur dann kann das Pferd wichtige Verhaltensweisen wie Erkundungsgänge im Schritt, soziales „zusammen rumstehen“, aber auch Auskeilen oder Buckeln als Ausdruck von purer Lebensfreude vollständig ausleben. Physiologisch mangelhafte Bewegung, zeitlich zu kurze, zu wenig und zu schnelle Bewegung sind die Hauptursachen für Erkrankungen (geschwollene Beine, Durchblutungsstörungen etc.)

Einige Pferde haben einen größeren Fluchtinstinkt als andere? Woran kann das liegen?

Natürlich ist das immer auch Charaktersache, aber auch rassebedingt. Haben wir einen hoch im Blut stehenden, immer in Hab-Acht-Stellung lebenden Araber, so wird dieser von Natur aus einen stärkeren Fluchtinstinkt haben als ein süddeutsches Kaltblut. Einen höheren Fluchtinstinkt haben aber auch Pferde, die gerade in eine Herde integriert wurden, tragende Stuten, traumatisierte Pferde. Aber auch wenn die Pferde schlecht hören oder sehen, stelle ich oft einen erhöhten Fluchtinstinkt fest. Ein wichtiger Faktor meiner Anamnese bei einem scheuen, ängstlichen, nervösen Pferd ist aber auch die Pferd-Mensch-Beziehung. Ein Pferd, das seinen Menschen noch nicht gut kennt oder einen Menschen hat, der nicht in der Lage ist, für Sicherheit zu sorgen, wird immer mehr fluchtbereit sein, als ein Pferd, das sich bei seinem Menschen sicher fühlt, die Umgebung kennt und ausreichend gutes Futter bekommt. Gründe dafür gibt es unzählige. Herauszufinden, woran es liegt, ist der erste Schritt, den Fluchtinstinkt wieder herabzusetzen. Denn mit einem Pferd zu arbeiten, das jederzeit fluchtbereit ist, macht keinen Sinn und wird auch sehr schnell gefährlich.

Inwiefern kann der Mensch in der Pferdeausbildung Einfluss auf den Fluchtinstinkt nehmen und diesen minimieren?

Die Antwort darauf finden wir bereits bei der vorherigen Frage. Es ist unsere Aufgabe als Reiter oder Pferdemensch, den Fluchtinstinkt so gering wie möglich zu halten. Haben wir, wie oben beschrieben, aus verschiedenen Gründen einen erhöhten Fluchtinstinkt, so ist es enorm wichtig, daran zu arbeiten, diesen wieder zu minimieren. Beim Thema Fluchtinstinkt und Pferdeausbildung ist ganz klar zu sagen: Ein fluchtbereites Pferd kann ich weder ausbilden noch trainieren oder korrigieren. Es wird mir nicht zuhören, nicht atmen und sich nicht entspannen – somit nicht lernen. Also muss ich von Anfang an dafür sorgen, dass sich das Pferd bei mir sicher fühlt. Ich muss selbst in meiner Persönlichkeit in der Lage sein, das Pferd zu führen. Es soll sich mir vertrauensvoll anschließen, mir zuhören und sich wohlfühlen. Wird es nervös, weil ein Traktor sich auf dem Waldweg nähert? Mein Job ist es, für Sicherheit zu sorgen. Ich bleibe ruhig und stelle das Pferd so auf, dass es den Traktor gut sehen kann. Am besten stelle ich mich schützend zwischen Traktor und Pferd. In solchen Situationen lache ich immer und spreche mit dem „Monster“ das sich nähert. Keinesfalls wäre es hier sinnvoll, das Pferd zu beruhigen! Denn so bestätige ich nur, dass es einen Grund für seine Aufregung gibt. Doch den gibt es nicht, denn ich bin da und passe auf.

Anders ist es z.B., wenn ich mit einem nervösen Pferd in der Halle arbeite und ein Geräusch von außen das Pferd aufregt. Hier ist immer wichtig, die Aufregung des Pferdes entweder zu ignorieren und es wirklich so zu beschäftigen, dass es sich konzentrieren MUSS. Da ich in meiner Arbeit mit Feedback (Lob und Tadel) arbeite, spiegle ich jedoch lieber hier dem Pferd, dass dieses Verhalten unerwünscht ist und es dafür absolut keinen Grund gibt. Ruhig, aber bestimmt und mit klaren Worten fordere ich es hier auf, sich auf mich zu konzentrieren, und fahre fort in meiner Arbeit.

Natürlich ist es wichtig, als Mensch immer und wirklich IMMER klar zu sein. Wir können unseren Pferden nicht vorspielen, dass wir wissen, was wir tun oder vorspielen, dass wir ab jetzt eine gute Führungspersönlichkeit sind. Pferdetraining ist immer Training an sich selbst. Die Werkzeuge, mit denen ich das Pferd gelassener machen kann, sind jedem natürlich selbst überlassen. Das kann ein klassisches Gelassenheitstraining mit Klappersack und Flattervorhang oder Luftballons sein. Oder ein Spaziergang durch den Wald. Hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Wichtig und unerlässlich ist aber immer unsere eigene Einstellung als Mensch. Die Luftballons oder der Klappersack machen das Pferd nicht gelassener. Es orientiert sich immer an uns.

Was passiert, wenn diese Verhaltensweisen nicht ausgelebt werden können?

Hier muss ich ganz klar sagen: Dann wird es gefährlich für uns Menschen. Ein Pferd, das bei vermeintlicher Gefahr nicht fliehen kann (weil es z.B. in eine Ecke gedrängt wird, festgebunden wird oder sonst irgendwie an der Flucht gehindert wird), wird angreifen oder sich wehren (Selbstverteidigungs-/Selbsterhaltungstrieb). Denn es kämpft ums Überleben. Hier gilt daher wieder: Es ist an uns Menschen, dafür zu sorgen, dass das, was das Pferd als Gefahr einstuft, kaum existiert. Also heißt es, Sicherheit zu geben und auch zu desensibilisieren.

Hier ist ein banales Beispiel, was ich so oft erlebe: Ein Pferd ist angebunden am Putzplatz. Es ist ein nervöses Pferd, man sieht, es tänzelt von einem Bein auf das andere, steht komplett unter Spannung, würde am liebsten weg. Jetzt kommt der Mensch dazu mit dem Sattel in der Hand. Weil das Pferd so nervös ist, wird auch der Mensch nervös und möchte das Pferd beruhigen. Er geht langsam und vorsichtig mit beschwichtigenden und besänftigenden Worten auf das Pferd zu (im schlimmsten Fall frontal oder von hinten) und legt übervorsichtig den Sattel auf. Spätestens hier macht das Pferd einen Satz zur Seite, Ansätze zum Steigen oder hebt das Hinterbein drohend etc. In dieser Situation reagieren die meisten Menschen leider ganz unbewusst falsch. In den Augen des Pferdes hat es etwas sehr Unheimliches gehört oder gesehen oder gerochen. Jetzt kommt der unsichere, nervöse Mensch schleichend näher (wie ein Raubtier beim Anpirschen) und, schwupps, wird es gepackt (wird der Sattel aufgelegt), und das Pferd wird wahrscheinlich zur Beute. So fühlt es dieses Pferd aus dem Beispiel. Wie gehe ich richtig vor? Alles, was ich mit meinem Pferd mache, mache ich niemals vorsichtig. Ich schleiche mich nicht an, sondern gehe festen Schrittes freundlich auf es zu. Rede freundlich mit ihm. Ich pirsche mich also nicht heran, sondern ich kann ruhig wackeln, knistern, husten oder sonst was beim Satteln. Natürlich ist das Überwerfen des Sattels bei manchen Cowboys nicht in Ordnung. Der Mittelweg eben. Auch wenn ich mich so verhalte, strahle ich Sicherheit aus. Dies ist so wichtig.

Wenn ich meinem Pferd den Fortbewegungstrieb nicht ermögliche, sondern es 23 Stunden in der Box halte, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn es in der ersten Stunde, in der ich es reiten möchte, eine Rakete ist, die jeden Moment zu explodieren droht.

Wie kann sich der Mensch das Fortbewegungsverhalten zu Nutze machen?

Ich möchte mir den Fluchtinstinkt des Pferdes nicht zu Nutze machen. Wenn wir den Rennsport genauer betrachten, sehen wir fliehende Pferde. Hier wird der Fluchtinstinkt leider missbraucht und die Fähigkeit der kurzfristigen Schnelligkeit des Pferdes ausgenutzt. Den Fortbewegungstrieb kann ich mir da eher zu Nutze machen, wenn ich ein Reiter bin, der Wanderreiten betreibt, Distanzritte. Sogar in der alten klassischen Dressur möchten wir die langsame, aber stetige Bewegung des Pferdes sehen. Eigentlich so, wie es der Natur des Pferdes am ehesten entspricht.

Welche Herausforderungen für den Reiter können sich aus dem Fluchtinstinkt ergeben?

Natürlich wird ein Pferd, das einen hohen Fluchtinstinkt hat, eher scheuen oder durchgehen oder nervös umhertänzeln als ein Pferd, dass sich mir als Führungspersönlichkeit vertrauensvoll angeschlossen hat und gelassen ist. Und übrigens auch eher als ein Pferd, das so viele verschiedene „Gefahren“ kennt: Traktoren, Autoverkehr, laute Maschinen, Kinderwägen, verschiedene Böden etc. Also auch hier heißt es wieder: desensibilisieren und führen.

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