Wir sind nicht nur über den Körper mit unserem Pferd im Kontakt, sondern auch über unsere Gedanken. Auch Sie können diese besondere mentale Verbindung mit Ihrem Pferd erreichen und erleben, wie sich Ihr Pferd Ihnen körperlich und geistig öffnet
Wenn Sie das nächste Mal im Sattel sitzen, stellen Sie sich vor, Sie würden die Reithandschuhe von Isabell Werth tragen oder im Sattel von Ingrid Klimke Hindernisse überwinden – was glauben Sie, was passiert? Wahrscheinlich werden Sie sich irgendwie anders fühlen: motivierter und positiver. Dann bewegt sich plötzlich auch Ihr Pferd leichter unter Ihnen. Auf einmal gelingt die Traversale ohne große Mühe, oder die Kombination passt ganz genau. Wir alle haben enorme mentale Fähigkeiten. Dieser sind wir uns allerdings nur selten bewusst. Unsere Vorstellungskraft ist unendlich. Als Kinder erleben wir in unserer Fantasie die kühnsten Abenteuer. Dann galoppieren wir ohne Sattel und Trense mit einem Pony über eine große Wiese, gewinnen mühelos Prüfungen auf Turnieren und haben natürlich unser Traumpferd im Stall stehen.
Mit dem Älterwerden lernen wir, unseren Verstand rationaler zu nutzen. Die Tagträumer, die in ihren Fantasiewelten aufgehen, werden dafür in der Schule nicht belohnt. Ganz im Gegenteil. Ähnlich geht es Kindern, die sehr sensibel sind, Stimmungen und Gefühle anderer genau wahrnehmen und sich davon (noch) nicht gut abgrenzen können.
Leistung vor Intuition
Schnell werden sie von anderen ausgeschlossen oder sogar gemobbt. Uns wird beigebracht, Leistung zu erbringen sowie logisch und analytisch zu denken. Da bleibt die Intuition auf der Strecke. Wenn wir mit Tieren zusammen sind, sieht das Ganze anders aus. Wir als Wesen, die sehr gut denken können, werden in einen Zustand des Nichtdenkens versetzt. „Pferde bringen uns auf eine Ebene, auf der die Alltagsprobleme verblassen – Pferde denken nicht über langfristige Probleme oder ehrgeizige Ziele nach“, schreibt die Dressurreiterin und -trainerin Beth Baumert in ihrem neuen Buch „Zwei Körper – ein Gedanke“. Unsere Vierbeiner leben vorwiegend im Hier und Jetzt. „Pferde sind zu keinerlei Selbstreflexion fähig, was bedeutet, dass sie weder im Selbstmitleid versinken noch andere verurteilen“, betont unsere Expertin. Um erfolgreich mit Pferden kommunizieren zu können, müssen auch wir im Jetzt sein. Dennoch tragen auch Pferde bleibende Erinnerungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit mit sich, die mehr oder weniger stark den jetzigen Moment beeinflussen. Sie sind also nicht immer völlig unbelastet. Allerdings denken unsere Vierbeiner nicht über diesen Rucksack der Altlasten nach, den sie mit sich herumtragen. Anders sieht es bei Menschen aus.
Von Vergangenheit und Zukunft befreien
Was an Erfahrungen und Erinnerungen in unserem eigenen Rucksack landet, kann zu einer erheblichen Last werden und unsere Zukunft maßgeblich mitbestimmen. Das liegt daran, dass wir von klein auf beigebracht bekommen, über die Vergangenheit nachzudenken und aus Fehlern zu lernen. Also zerbrechen wir uns den Kopf über das, was war, und versuchen gleichzeitig für die Zukunft zu planen. Durch den Kontakt mit dem Pferd passiert etwas Wunderbares: „Wenn wir sowohl geistig als auch körperlich bei unseren Pferden sind, befreien sie uns von der Vergangenheit und der Zukunft“, sagt Beth Baumert. Pferde fordern von uns im wahrsten Sinne des Wortes eine volle Geistesgegenwart. Im Sattel wird die Kommunikation – wenn wir uns voll und ganz darauf einlassen können – zu einem dynamischen, meditativen Zustand. Zu Problemen kommt es, wenn wir während des Reitens über die Vergangenheit oder Zukunft nachdenken. Der versprungene fliegende Wechsel vor fünf Minuten darf nicht dazu führen, dass Sie verbissener reiten oder davon ausgehen, dass weitere Fehler passieren. Wenn Sie nicht mehr im Moment sind, fühlt sich Ihr Pferd allein gelassen und ohne Führung. „Das Pferd braucht Ihre ständige Aufmerksamkeit und Konzentration auf das, was im Hier und Jetzt passiert“, so unsere Expertin. Das Jetzt ist der einzige Zeitpunkt, den wir wirklich beeinflussen können. Die Vergangenheit ist unveränderbar, und die Zukunft können wir nicht vorhersagen, sondern lediglich Vermutungen über sie anstellen.
Kommunikation: Den Kopf voller Informationen?
Im alltäglichen Leben herrscht oft ein Wettbewerb – nicht nur in beruflicher Hinsicht. Auch im privaten Bereich vergleichen und bewerten wir. Wer Wissen und eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, hat die Nase vorn. Beide Prozesse laufen in der linken Gehirnhälfte ab. „Obwohl die logisch denkende, wissensspeichernde linke Gehirnhälfte nur einen Teil unserer geistigen Kapazität ausmacht, ist sie dennoch ein wichtiger Teil – da sie die anderen Dimensionen des Gehirns formt und beeinflusst“, erklärt Beth Baumert. So weiß Ihre linke Gehirnhälfte, wann Ihr Turnier stattfindet, wann Sie abreiten müssen und wann die Prüfung beginnt. Zudem kennt Sie alle wichtigen Regeln, die es auf einem Turnier zu beachten gibt, und organisiert alles Drumherum: Welche Ausrüstung Sie mitnehmen müssen und wie Ihr Pferd gefüttert wird, um genug Kraft für den Tag zu haben. „Darüberhinaus verfügt der Reiter über ein intellektuelles Verständnis der körperlichen und geistigen Bedürfnisse seines Pferdes“, so unsere Expertin. Als denkender Reiter steigen Sie mit einem Kopf voller wichtiger und detaillierter Informationen in den Sattel. Diese helfen Ihnen bei der Ausbildung Ihres Pferdes. Führen Sie sich jedoch vor Augen, dass sich Ihr Bewusstsein immer nur auf eine Sache konzentrieren und diese lernen kann. Daher macht es Sinn, Trainingseinheiten gut zu strukturieren und weder sich selbst noch das Pferd zu überfordern. Sobald etwas durch Lernen zur Gewohnheit wird, wird es in das Unterbewusstsein verschoben. Wenn Sie zum Beispiel gelernt haben, Fahrrad zu fahren und die Balance zu halten, werden Sie auch nach ein paar Monaten Pause wieder in den Sattel steigen und fahren können, ohne groß darüber nachzudenken, was Sie da eigentlich genau machen.
Zwischen Denken und Nichtdenken
Außerhalb des Denkens gibt es noch einen anderen Zustand: den des Nichtdenkens. „Der nicht denkende Geist kann sich nach innen richten, dann nennen wir ihn Meditation. Oder er kann sich nach außen richten und eine Kommunikation mit dem Pferd sein“, erklärt Beth Baumert. Pferde verlangen von uns, genau diese Dimension des Bewusstseins zu erkunden. „Wir müssen dorthin gehen, wo unser Pferd ist – an den Ort, an dem es keine Auseinandersetzung mit Alltagsproblemen gibt“, sagt die Dressurtrainerin. Wenn Sie sich in einen Zustand begeben, in dem Sie nicht urteilen und im Hier und Jetzt sind, befinden Sie sich in einem Bewusstseinszustand, den Ihr Pferd lesen kann. Laut Beth Baumert reiten die besten Reiter mit zwei Bewusstseinszuständen: einen den das Pferd lesen kann, und einen, den es nicht lesen kann.
Den nicht denkenden Bewusstseinszustand spürt das Pferd. Diesem kann es zuhören, und er ermöglicht eine beidseitige Kommunikation zwischen Pferd und Ausbilder. Hingegen können Vierbeiner unseren Geisteszustand des logischen Denkens, unser Streben nach Wissen sowie unsere Problemlösungsstrategien nicht lesen. Während des Reitens können Sie lernen, zwischen Denken und Nichtdenken hin- und herzuwechseln. Wie das in der Praxis aussieht, zeigen wir Ihnen in unseren Übungen auf Seite 17. Wenn Sie Ihre Gedanken so verinnerlicht haben, dass sie unterbewusst geworden sind, müssen Sie nicht mehr darüber nachdenken. „Der nicht denkende Geist spürt. Er hat keine Meinung, er ist automatisiert und befindet sich im Hier und Jetzt – in der Zone“, betont Beth Baumert.
Frei von Gedanken in der Zone
Wahrscheinlich haben Sie den Begriff der „nicht denkenden dynamischen Meditation“ bisher noch nicht gehört und fragen sich, wie Sie dorthin gelangen? Beth Baumert ist es wichtig, einen zuverlässigen Weg zu finden, um an diesen ruhigen inneren Ort zu kommen. Das bedeutet, eine andere Dimension des Geistes zu finden, die zwar frei von Gedanken ist, aber eben über unerschöpfliche Kapazitäten verfügt. „Dieser wunderbare, einfache Zustand der dynamischen Meditation ist ein Zustand, in dem sich Magie einschleichen und Ihnen eine Welt unendlicher Möglichkeiten eröffnen kann“, sagt unsere Expertin, die diesen Zustand auch als „Zone“ bezeichnet. Sie zu finden ist oft gar nicht so leicht, weil der Verstand Streiche oder sogar regelrecht verrückt spielen kann. Dann erleben wir schlaflose Nächte voller Grübeleien und kreisenden Gedanken und anschließend leistungsschwache Tage.
Das zwanghafte Denken ist laut Beth Baumert das innere kopflose und auch oft negative Geschnatter, das manchmal auch als Gedankenkarussell bezeichnet wird. Dem denkenden Verstand können wir manchmal nur schwer entfliehen. Dann dreht sich alles um ein Problem, wir suchen nach Lösungen, planen, erstellen unaufhörlich Listen, analysieren und wägen unsere Optionen ab. Fast jeder kennt das Gefühl, mal mit den Nerven am Ende zu sein und sich einen Ausschalter für den eigenen Kopf zu wünschen. Wenn sich die kreisenden Gedanken nicht stoppen lassen, begrenzen sie unsere Freiheit und unsere Möglichkeiten. Das bewusste Denken liegt irgendwo zwischen dem Gedankenkarussell und der Zone. „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, betont die Dressurreiterin und fügt hinzu: „Noch einen Schritt weiter liegt die Fähigkeit, nicht mehr zu denken und sich an diesen ruhigen, meditativen Ort zu begeben, der einerseits einfacher ist als das Denken, diesem aber gleichzeitig auch weit voraus ist.“ Was uns im Weg steht, sind häufig unsere Emotionen.
Gift oder Gewürz
Emotionen können uns beflügeln und uns enorme Kraft verleihen, zum Beispiel, wenn wir Liebe spüren. Auf der anderen Seite können Sie uns einschränken und uns regelrecht erstarren lassen. Wer angsterfüllt durchs Leben geht, befindet sich in einer Habachtstellung, ist angespannt und hat oft keinen Zugang mehr zu dem, was wir Intuition nennen. Emotionen sind entweder Freund oder Feind, und sie machen die Einstellung aus, die unserem Denken und Tun zugrunde liegt. „Sie können entweder wie eine leckere Soße sein, die unsere Gedanken und Handlungen Würze verleihen, oder wie ein Gift, das unseren Gedanken und Handlungen verpestet und unsere Erfolgschancen minimiert“, beschreibt Beth Baumert. Wie gut wir mit Pferden kommunizieren können, hängt auch damit zusammen, welche Emotionen wir in unseren Botschaften vermitteln. Das ist in der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht anders. Bestimmt kennen Sie den Spruch „Es kommt nicht darauf an, was jemand sagt, sondern wie er es sagt“.
Wenn Sie im Sattel sitzen und eine Hilfe geben, kommt es natürlich auf die korrekte Ausführung und das Timing an, aber auch darauf, welche Emotion Sie dabei vermitteln. Eine Schenkelhilfe kommt beim Pferd motivierend an, wenn Sie denken, „du schaffst das“. Anders sieht es aus, wenn Ihre Gedanken negativ sind und Sie die Hilfe frustriert nach dem Motto „Jetzt mach endlich!“ geben. Ihr Pferd spürt Ihre Stimmung ganz genau. Äußere, persönliche Umstände nehmen wir häufig mit in den Stall. Der Stress des ganzen Tages lastet regelrecht auf unseren Schultern, genauso wie ungelöste Konflikte oder Aufgaben, die noch erledigt werden müssen. Machen Sie sich bewusst, dass Wut oder Ärger und Respekt nicht gut gleichzeitig existierten können. „Sie können nicht pessimistisch fühlen und gleichzeitig ehrlich neugierig sein“, sagt unsere Expertin. Reiten erfordere jedoch Neugier. Wenn Sie Ihre Nerven nicht kontrollieren können, werden Ihre reiterlichen Fähigkeiten darunter leiden. Nur wenn Sie es schaffen, das Gedankenkarussell zu stoppen, ist eine ruhige, klare Kommunikation zwischen Ihnen und Ihrem Pferd möglich.
Viele kleine Eingänge
So viel zur Theorie, doch wie kommen wir in die eben beschriebene Zone? „Stellen Sie sich die Zone als einen Ort mit vielen kleinen Eingängen vor, die leicht zu finden sind, wenn man weiß, wo sie sich befinden“, rät Beth Baumert. Die Zone ist sozusagen in Ihnen, und Ihre Verhaltensweisen sind die Schlüssel zu den Eingängen. Dabei geht es darum, eine positive mentale Einstellung zu erreichen, im Hier und Jetzt zu sein und sich für die Außenwelt zu öffnen. Das bedeute auch, einfühlsam, neugierig und aufnahmebereit zu sein. Ebenso spielen Achtsamkeit und Konzentration eine Rolle. All diese Verhaltensweisen helfen Ihnen, ein zwanghaftes, aber auch beabsichtigtes Denken abzustellen. Eine wunderbare Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd kann gedeihen, wenn Liebe und Verständnis da sind. Dass es an manchen Tagen nicht einfach ist, die Dinge ins Positive zu wenden, ist völlig normal. Dennoch ist es wichtig, sich immer wieder aufs Neue zu bemühen und an sich selbst zu arbeiten.
„Das Pferd erinnert uns ständig daran, dass wir jeden Tag von Neuem als unbeschriebenes Blatt in den Sattel steigen und das Hier und Jetzt erleben müssen“, sagt unsere Expertin. Das Tier bringe uns bei, unser Selbstgefühl auch angesichts persönlicher Herausforderungen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. „Reiten ist die beste Therapie, weil Pferde ein Spiegel unserer Stärken und Schwächen sind“, so Beth Baumert. Wenn Sie angespannt in den Sattel steigen, wird Ihr Vierbeiner das genau spüren und sich nicht unter Ihnen entspannen können. Manche Pferde entwickeln sogar die gleichen körperlichen und mentalen Probleme wie ihre Reiter. Das zeigt, wie sehr sich die zwei Körper gegenseitig beeinflussen und wie viel uns Reiten über uns selbst lehrt.
Text: Aline Müller Foto: www.Slawik.com