Interview: Inga Dora Meyer Foto: slawik.com
Wussten Sie, dass der gesunde Menschenverstand im Englischen neben „common sense“ auch mit dem Begriff „horse sense“ beschrieben wird? Margit Dellian bietet Seminare für Führungskräfte mit iberischen Pferden in Heilbronn an (www.equi-com.de). Sie erklärt, warum sich jeder Chef in puncto Führungskompetenz etwas von den Vierbeinern abschauen kann.
Inwieweit ist Führungskompetenz erlernbar?
Bereits der amerikanische Psychologe und Wissenschaftsjournalist Daniel Goleman, der den Begriff der emotionalen Intelligenz (EQ) prägte, war überzeugt, dass Führung genauso erlernbar ist wie Gitarre oder Golf spielen. Führung oder Leadership ist also keine „angeborene“ Eigenschaft, sondern es ist uns möglich, uns diese Fähigkeit im Laufe unseres beruflichen Werdegangs und unserer Entwicklung anzueignen
Warum eignen sich Pferde so gut als Management-Coaches? Was können sie, was ein menschlicher Coach nicht kann?
Pferde sind streng hierarchisch lebende „Opfertiere“, die sich kaum verteidigen, sondern immer flüchten, wenn Gefahr droht. Deshalb können sie Körpersprache extrem gut lesen, weil sie sich ständig über ihre Leittiere informieren müssen, ob Gefahr droht oder nicht. Zum anderen leben und handeln Pferde, wie alle Tiere und übrigens auch Kinder, immer im jeweiligen Moment, im sogenannten „Hier und Jetzt“. Wir können mit ihnen nur in Kontakt treten, wenn wir uns auf die Gegenwart konzentrieren. Wir Menschen haben das leider ziemlich verlernt, wir sind mit unseren Gedanken fast ausschließlich in der Vergangenheit oder in der Zukunft unterwegs und beschäftigen uns hier überwiegend mit negativen Gedanken. Handlungsfähig sind wir aber nur im Hier und Jetzt, die Beschäftigung mit Vergangenheit und Zukunft raubt uns eine Menge Energie und hindert uns daran, Chancen im Moment zu erkennen und zu ergreifen.
Pferden ist es völlig egal, ob ihr Trainingspartner Vorstandsvorsitzender oder Azubi ist – sie reagieren immer echt. Wir menschlichen Trainer sind – ob wir das bewusst wollen oder nicht – eher voreingenommen. Und gängige Rollenspiele in Führungskräfte- oder Vertriebstrainings sind deswegen so ineffizient, da jeder eben eine Rolle spielt, aber nie ein echtes Feedback gibt. Das Feedback der Pferde hingegen ist ohne jede Wertung – ein Pferd denkt zum Beispiel nicht: „Ich mach das nicht, weil du aus der Abteilung X kommst, und dort sind sowieso alle doof“, oder: „Ich fand dich schon beim letzten Betriebsausflug unsympathisch“, sondern es wird völlig ohne Wertung reagieren oder auch nicht. Und wenn der Trainingspartner dann sein Verhalten ändert, also zum Beispiel anstelle von Druck und Hektik Ruhe und Klarheit zeigt, wird auch das Pferd sofort sein Verhalten anpassen und mitarbeiten.
Pferde können Menschen emotional derart tief berühren und „auftauen“, wie es ein menschlicher Trainer kaum schafft. Bereits Winston Churchill sagte: „There is something at the outside of a horse that is good for the inside of a man.“ – „Es gibt etwas am Äußeren eines Pferdes, das dem Inneren eines Menschen guttut.“ Und recht hat er.
Man darf auch nicht vergessen, dass Pferde, bevor das Automobil erfunden wurde, also bis vor ca. 125 Jahren, 6.000 Jahre lang für Mobilität, Repräsentation, Expansion und viele weitere Möglichkeiten stand, die vor allem für Führungskräfte unabdinglich waren. Alexander der Große hat zum Beispiel nach seinem treuen Streitpferd Bukephalos eine Stadt (Bukephala) benannt – das hat er für keinen seiner treuesten Kriegskameraden getan. Von Napoleon weiß man, dass er immer seinen Hengst Marengo wählte, wenn er in eine brenzlige Schlacht ziehen musste. Fast alle großen Könige, Kaiser und Feldherren ließen sich zusammen mit ihren prachtvollen Pferden verewigen – ein Denkmal von ihnen mit einem Hund oder anderem Tier gibt es kaum auf dieser Welt, aber Tausende von Reiterdenkmälern.
Inwiefern machen die Tiere Führungsverhalten erst erlebbar?
Weil Pferde uns Menschen extrem gut „lesen“ können und uns sofort Feedback geben, erleben wir, wie stark wir über unsere Körpersprache wirken, die übrigens tatsächlich 90 % unserer Kommunikation ausmacht. Wenn wir also etwas sagen, was Mitarbeiter beruhigen soll, unsere Körpersprache aber Druck, Angst und Stress verrät, dann werden unsere Mitarbeiter unsere Botschaft nicht glauben. Oder: Wenn ich einen Mitarbeiter lobe und gleichzeitig auf die neuesten Nachrichten auf meinem Smartphone schiele, dann wird das Lob bei dem Mitarbeiter genau das Gegenteil erreichen. Er fühlt sich respektlos behandelt, wird es aber in den seltensten Fällen direkt und offen sagen. Pferde zeigen ihren Eindruck sofort und unverblümt.
Wie helfen die Tiere dabei, die eigene Führungskompetenz zu verbessern?
Im Grunde ist das Pferd nur ein Instrument, um Lernen mit Erleben zu verbinden. Denn eine Verhaltensänderung – das belegen jüngste Ergebnisse der Hirnforschung und Neurobiologie – entsteht erst, wenn Erkenntnisse zu emotionalisierenden Erfahrungen führen. Denn nur dann bildet unser Gehirn neue neuronale Verknüpfungen, die eine nachhaltige persönliche Weiterentwicklung bewirken. Deshalb ist es auch völlig egal, ob die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer Pferdeliebhaber sind. Das Pferd ist Mittel zum Zweck, und wir hatten schon sehr viele Seminarteilnehmer, die zu Beginn des Trainings nicht besonders viel von Pferden hielten, was auch völlig okay ist, und dennoch sehr vom Seminar profitieren konnten. Das der eine oder andere dann doch noch zum Pferdefan wurde und große Skeptiker nach dem Seminar anfingen, Reitunterricht zu nehmen, das haben wir natürlich auch schon erlebt!
Welche Übungen absolvieren die Seminarteilnehmer, und welchem Zweck dienen sie?
Die beiden wichtigsten Übungen sind
– erstens, zu erkennen, welcher Typ von Mitarbeiter vor mir steht und wie ich diesen behandeln muss. Wir setzen ganz gezielt unterschiedliche Pferdetypen im Seminar ein, die genau den klassischen Profiling-Mitarbeitertypen entsprechen. Bei dieser Übung erkennen Seminarteilnehmer sofort ihre Mitarbeiter in den Pferden und lernen auf spielerische Art und Weise und ohne sich zu blamieren, dass man zum Beispiel mit einem dominanten Hengst anders umgehen muss als mit einem „Kumpeltyp“, der es allen recht machen möchte.
– zweitens, situativ zu führen, das heißt der Situation und dem Mitarbeitertyp entsprechend. Manchmal wollen Pferde lieber von vorne, von hinten oder auf Schulterhöhe geführt werden. Das hängt sowohl vom Pferdetyp als auch von der Aufgabenstellung ab. Im Seminar lernen die Teilnehmer, die Führung immer flexibel und entsprechend anzupassen, das kann man wunderbar auf den beruflichen Alltag übertragen.
Wie lässt sich das am Pferd Gelernte im (Berufs-)Alltag anwenden?
Führung fängt immer bei der Führungskraft an. Nur wer sich selbst einigermaßen „im Griff“ hat, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Respekt behandelt, klar und deutlich kommuniziert, Ziele und Aufgaben so erklärt, dass sie für jeden verständlich sind, aber auch Leistung mit Konsequenz einfordert, wird als Chef erfolgreich sein und nicht ausbrennen. Und wenn eine Führungskraft dies im Seminar umsetzt und erlebt, wie einfach man diese imposanten 600-Kilo-Muskelpakete, die alle ihren eigenen Charakter haben, bewegen kann, der wird auch im beruflichen Leben versuchen, diesen (Glücks-)Zustand immer wieder zu erreichen.
Welche Eigenschaften oder Qualitäten sollte ein Chef haben, um seine Mitarbeiter gut zu führen? Warum gelten diese Eigenschaften auch für das Pferdetraining?
Führung im digitalen Zeitalter löst das traditionelle Führungsverständnis ab, das unter sanderem auf detaillierten Analysen und einer langfristigen Planung beruht. Genau das erlaubt die „digital transformation“, die mit einer hohen Veränderungsgeschwindigkeit einhergeht, nicht mehr. Stattdessen stehen Vertrauen, Vernetzung, Transparenz, Offenheit, Eigenverantwortung und Dynamik im Vordergrund. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vertrauen zueinander haben, sich offen austauschen und gerne am „großen Ganzen“ teilnehmen, entsteht durch direkte Kommunikation, das Einbringen neuer Ideen und eine schnelle Reaktionszeit die gewünschte Agilität. Gegenseitiges Vertrauen bildet hierbei tatsächlich die Basis. Denn wenn dieses fehlt, werden Menschen nicht offen kommunizieren und ihre Ideen lieber für sich behalten.
Ein moderner Chef im digitalen Zeitalter braucht also genau die Eigenschaften, mit der eine Pferdeherde geführt wird:
Die Stute (= Vorbildfunktion) führt mit den so genannten „Soft Skills“, sie gibt den Weg, das Ziel vor, erzieht die Herdenmitglieder (beim Mitarbeiter würden wir von Weiterentwicklung sprechen) und gibt ihre Erfahrungen (Kompetenzen) weiter. In dem Rahmen zwischen Leitstute vorne und Leithengst hinten können sich die Herdenmitglieder frei bewegen und vernetzen (ihre eigene Rangordnung untereinander ausmachen). Die Stute wird übrigens von der Herde gewählt und genießt das absolute Vertrauen der Herdenmitglieder. Ist dies nicht mehr gewährleistet, wird sie abgelöst.
Der Leithengst (= konsequente Exekutive). Wird der von der Stute vorgegebene, wohlwollende Rahmen nicht berücksichtigt oder respektiert und folgen die Herdenmitglieder nicht in der gewünschten Dynamik, fordert er Herdenmitglieder konsequent und mit Nachdruck (Biss in die Hinterbeine) auf, zu folgen. Wer sich gar nicht daran hält, wird der Herde verwiesen. Er ist aber auch derjenige, der die Herde verteidigt– im schlimmsten Fall auch mit seinem Leben. Solche Manager würden wir uns doch auch wünschen!
Gibt es sonst noch etwas, was Sie zum Thema für wichtig erachten?
Gerade wenn man Seminare und Trainings mit Tieren als Co-Trainer macht, muss die Qualität erstklassig sein – sowohl was den Inhalt der Seminare angeht, als auch, was die Auswahl, Ausbildung, Haltung und den Einsatz der Seminarpferde angeht. Wichtig ist meiner Erfahrung nach, dass die Seminare mit den Pferden nicht zu „pferdelastig“ oder gar esoterisch gestaltet werden. Der berufliche Alltag einer Führungskraft muss im Vordergrund stehen, und die Trainer müssen diesen kennen. Das ist meiner Ansicht nach auch der Grund, warum sich dieses wirkungs- und wertvolle Format bisher kaum am deutschen Seminarmarkt durchgesetzt hat.
Unsere Expertin: Margit Dellian betreibt seit 1998 ihre Unternehmensberatung in Heilbronn und Frankfurt. Seit ihrer Kindheit fasziniert von Pferden, hat sie die Tiere als Freizeit- und zunehmend auch als ideale Trainingspartner für einen gleichermaßen instinktsicheren wie pragmatischen und effizienten Führungsstil schätzen gelernt.