Auch wenn wir dazu neigen, Pferde untereinander gleich zu behandeln, sollten wir nie aus dem Blick verlieren, dass jedes Pferd ein Individuum ist. Unsere Expertinnen Linda Tellington-Jones und Dr. Ursula Pollmann erklären, wie wir im Gesicht unseres Pferdes wie in einem Buch lesen können und auf diese Weise mehr über seinen Charakter erfahren können
Text: Jessica Classen; Fotos: IMAGO/Spöttel picture, privat, www.slawik.com

Bereits Cicero sagte: „Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.“ Damit meinte er sicher nicht die Gesichter von Pferden, dennoch griff viele Jahre später eine junge Kanadierin namens Linda Tellington-Jones genau diesen Gedanken wieder auf und bezog ihn auf Pferde: „Mit zwölf Jahren begann ich, mich zum ersten Mal für die Persönlichkeit eines Pferdes zu interessieren“, sagt sie. „Ich beobachtete das Verhalten einer Pferdeherde und bemühte mich, ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und Eigenarten zu erspüren. Von Kindesbeinen an hatte ich Bauernweisheiten gehört, die besagten, dass die unterschiedlichen Kopfformen von Pferden auf verschiedene Charaktereigenschaften schließen ließen.“ Auch Dr. Ursula Pollmann von der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft e.V. erforscht die Persönlichkeit von Pferden: „Wenn man wie ich seit vielen Jahren selbst Pferde hält und auch schon Fohlen gezogen hat, bleibt es nicht aus, sich über den Charakter der Pferde Gedanken zu machen. Man überlegt, warum sich die einzelnen Individuen teilweise so verschieden verhalten, obwohl man doch selbst versucht, sie grundsätzlich gleich zu behandeln.“ Und genau das ist es, was uns Menschen zu Pferden hinzieht: Die Tiefe der Beziehung, die wir mit ihnen aufbauen können. Hierbei ist die Persönlichkeit der Pferde besonders wichtig.

Pferdeflüstern kann jeder

„Die Persönlichkeitsanalyse kann mit ein bisschen Übung eigentlich jeder erlernen“, so Dr. Pollmann. „Wenn man sich die verschiedenen Merkmale des Ausdrucksverhaltens genauer angeschaut hat, muss man nur ein guter Beobachter sein, aber auch die eigene Persönlichkeit kritisch mit einbeziehen können.“ Immerhin treffen in einer Pferd-Mensch-Beziehung zwei Persönlichkeiten aufeinander, die zusammen passen müssen, damit es harmonisch ist. Linda Tellington-Jones führt weiter aus: „Den Charakter eines Pferdes zu beurteilen ist zwar eine Kunst, die aber jeder erlernen kann“, sagt sie. „Und wie jeder Künstler, muss man erst einmal lernen, die Grundlagen zu beherrschen.“ Erst, wenn uns die Grundkenntnisse in Fleisch und Blut übergegangen sind, werden wir Pferde mit ganz anderen Augen sehen. „Größe und Form, Profil und Haltung, die Merkmale des Kopfes, die Körperproportionen – all das wird eine neue Bedeutung bekommen, ein Bild der Charakterzüge vermitteln und uns so die Persönlichkeit vor Augen führen“, so die Expertin. Dr. Ursula Pollmann gibt allerdings zu bedenken, dass die Persönlichkeit eines Pferdes sich vor allem im jeweiligen Ausdrucksverhalten sowie in spezifischen Reaktionen auf Einwirkungen aus der Umwelt zeigt. Als Beispiel nennt sie das Ohrenspiel: „Was jeder, auch der Laie, erkennen und möglichst korrekt bewerten können sollte, ist das Ohrenspiel. Leider werden aber oft nach hinten gerichtete und angelegte Ohren nicht korrekt unterschieden.“ Dabei ist dies eines der wichtigsten Merkmale der Persönlichkeitsanalyse, das direkt zu Beginn erlernt wird. Dafür bedarf es der genauen Beobachtungsgabe, damit wir einfache Merkmale wie das Ohrenspiel, aber auch verstecktere Hinweise wie Verspannungen um Nüstern und Maul herum besser deuten können. Eine genaue Reihenfolge, nach der man die Persönlichkeit analysiert, gibt es allerdings nicht. „Wenn man zum ersten Mal auf ein Pferd trifft, schaut man zunächst, ob und wie es auf einen zugeht und wie Mimik und Gestik dabei aussehen“, erklärt Dr. Pollmann und ergänzt: „Die wahre und vollständige Persönlichkeitsanalyse kann man meines Erachtens nach nur erfassen, wenn man das Pferd in verschiedenen Situationen und an unterschiedlichen Orten erlebt hat. Sogar die Jahreszeit hat dabei einen Einfluss.“ Und Linda Tellington-Jones hat noch eine weitere Entdeckung gemacht: „1975 entdeckte ich die bemerkenswerte Tatsache, dass man die Persönlichkeit eines Pferdes nicht nur analysieren, sondern auch regelrecht beeinflussen kann.“ Zuvor hatte sie gedacht, ein Pferd bleibe im Wesentlichen so, wie es geboren worden sei und wir es kennengelernt haben. Dann aber lernte sie Dr. Moshe Feldenkrais kennen und seine Methode, die auf folgenden Gedanken basiert: Um in der physischen Welt zu funktionieren, haben wir bestimmte Muster erlernt, die im Gehirn abgespeichert werden. Diese können allerdings jederzeit neu erlernt und abgespeichert werden. Ebenso verhält es sich mit der Persönlichkeit, sowohl beim Menschen als auch beim Tier. „Wir können zwar nicht die Genstruktur verändern, aber durchaus das, was wir als ‚Persönlichkeit‘ eines Pferdes wahrnehmen“, so Linda Tellington-Jones. „Die individuelle Persönlichkeit jeder Kreatur ist kein festgelegtes ‚Ding‘, sondern vielmehr ein fortwährender Austausch von Kommunikation zwischen dem Pferd und seiner Umwelt.“ Natürlich kommt hier noch hinzu, wie wir selbst mit Pferden umgehen und was wir in ihnen sehen: Oft sprechen wir von einem komplizierten oder unkomplizierten Pferd. „Aber was genau bedeutet ‚kompliziert‘ in diesem Zusammenhang? Dass das Pferd einen starken Charakter hat und deshalb vom Menschen auch mehr fordert?“, fragt Dr. Ursula Pollmann. „Im Extremfall merkt man das bald: Solche Pferde ‚hinterfragen‘ unsere Forderungen viel öfter als andere, wenn man selbst nicht in der Lage ist, überzeugend genug aufzutreten. Es spielt also eine große Rolle, welche zwei Persönlichkeiten aufeinandertreffen, um vorauszusagen, ob der Umgang kompliziert oder unkompliziert ist.“ Und Linda Tellington-Jones führt weiter aus: „Wenn wir die Persönlichkeit eines Pferdes missverstehen, kreieren wir eine falsche Identität“, sagt sie. „Aber wenn wir unsere alten Gewohnheiten der Wahrnehmung durchbrechen, können wir das Beste aus unseren Pferden herausholen.“

Die Persönlichkeit beeinflussen?

„Da sich die Persönlichkeit immer sowohl aus vererbten als auch aus erworbenen Anteilen zusammensetzt, ist eine ‚Beeinflussung‘ nur hinsichtlich der erworbenen Eigenschaften möglich“, so Dr. Ursula Pollmann. „Am günstigsten ist es in diesem Fall natürlich, wenn man die erwünschte Eigenschaft fördert und andererseits die unerwünschte erst gar nicht zur Ausprägung kommen lässt.“ Auch Linda Tellington-Jones ist aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung davon überzeugt, dass ein Pferd zu verstehen nicht gleichzeitig bedeutet, ihm alles durchgehen zu lassen. „Wir sollten unseren Pferden nicht einfach alles erlauben, aber dennoch vor allem die Kooperation mehr begrüßen als die Konfrontation.“ Um Missverständnisse im Umgang mit dem Pferd zu vermeiden, ist die Fähigkeit der Persönlichkeitsanalyse von großem Nutzen. Auch betont die Expertin, dass die Art, wie ein Pferd emotional und körperlich reagiert, vieles darüber aussagt, was für ein Individuum er oder sie ist. „Wenn man die angeborenen Tendenzen seines Pferdes kennt, kann man dessen Verhalten richtig einschätzen und es auch dementsprechend fördern.“

Den richtigen Partner finden

Beim Pferdekauf ist es wichtig, dass Sie den richtigen Partner für sich finden. „Wenn die Persönlichkeiten nicht harmonieren, sind beide am Ende nicht zufrieden“, so Linda Tellington-Jones. „Dann hat keiner der beiden Freude an der Beziehung.“ Andererseits kann man nicht unbedingt von Anfang an sagen, dass ein Pferd für seinen Reiter ungeeignet ist oder dass der Ausbilder etwas falsch macht, nur weil er durch das Verhalten des Pferdes frustriert ist. Es kann durchaus auch sein, dass das Pferd für eine bestimmte Disziplin ungeeignet ist, oder das Problem ist gar die Eigenart einer Persönlichkeit, mit der man erst umgehen kann, wenn man sie auch versteht. „Man sollte sich ein Pferd aussuchen, das die eigene Persönlichkeit im positiven Sinne ergänzt“, sagt Dr. UrsulaPollmann. „Das heißt, dass sich zum Beispiel ein nervös veranlagter Mensch eher ein gelassen veranlagtes Pferd aussuchen sollte. Grundsätzlich sollte auch kein Pferd ausgewählt werden, das eine stärkere Persönlichkeit hat als man selbst.“ Kann ich meine eigene Persönlichkeit allerdings selbst gut einschätzen und mich auf das Pferd einstellen, so steht der Harmonie selbst bei Gegensätzen nichts mehr im Wege. Aber wie erkenne ich auf den ersten Blick grobe Merkmale des Charakters, die dann auch zu mir passen? „An der Stellung der Ohren, am Ausdruck der Augen, an der Form der Nüstern oder der Stirn kann ich auf eine momentane Stimmung oder Emotion schließen“, so Dr. Pollmann. „Jedoch macht das noch lange keine umfassende Charaktereigenschaft aus.“ Und LindaTellington-Jones sagt: „Einen Charakter zu deuten hat ein bisschen was von Detektivarbeit. Ein Detektiv beginnt auch mit gründlichen  Untersuchungsmethoden, um zu bestimmten Ergebnissen zu kommen. Und am Ende fügt sich das Puzzle zu einem ganzen Bild.“ Wer den richtigen Partner für sich finden will finden, sollte sich im Vorfeld auch über die jeweiligen Rassen informieren, die für ihn in Frage kommen. Dr. Pollmann begründet dies: „Die jeweiligen Rassenbeschreibungen können helfen zu erfahren, womit ich selbst umgehen kann. Es ist allgemein bekannt, dass schwere Pferderassen ruhiger, dafür aber oft auch etwas schwerfälliger im Umgang sind als leichte und insbesondere Vollblutrassen, die leicht erregbar sind.“ So hat jede Rasse ihre Eigenheiten, nicht nur im Aussehen, sondern auch im Verhalten und damit dem Charakter und der Persönlichkeit. Dies muss in jeder Beziehung berücksichtigt werden. Daher ist es ratsam, das Pferd vor dem Kauf ein zweites oder drittes Mal zu besuchen und es in verschiedenen Situationen zu erleben. So sehen Sie auch, ob es zu Ihnen passt oder vielleicht sogar doch nicht. „Ein weiterer Schritt, um ein passendes Pferd zu finden, besteht darin, dass Sie herausfinden, was Sie von einem Pferd überhaupt möchten“, so Linda Tellington-Jones. „Wenn Sie sich darüber im Klaren sind und dann die Charaktereigenschaften der jeweiligen Rassen beachten, haben Sie schon einen Rahmen. Natürlich muss das Pferd auch zu Ihrem eigenen Temperament passen.“ Überlegen Sie sich daher auch, in welcher Disziplin Sie reiten möchten, oder ob Sie gerne ein reines Freizeitpferd hätten. Soll das Pferd nur für Sie oder sogar für die ganze Familie da sein? All diese Faktoren sind beim Pferdekauf wichtig und müssen berücksichtigt werden.

Pferde als Individuen sehen

„Indem wir erkennen, dass Pferde individuelle Persönlichkeiten mit individuellen geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen auf die Umwelt sind, können wir ihre Intelligenz und ihr Verhalten auf eine neue Art und Weise wahrnehmen“, erklärt Linda Tellington-Jones. In diesem Zusammenhang ist es auch für einen Ausbilder wichtig zu wissen, ob ein Pferd ein schneller oder ein langsamer Lerntyp ist. „Pferde haben ein hohes Maß an Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, denn schnell zu lernen war während der Evolution für das Überleben von Vorteil“, sagt Dr. Ursula Pollmann. „Dennoch spielen unter anderem auch Charaktereigenschaften eine Rolle beim Lernen. Ein aufmerksames, leicht motivierbares, aber dennoch ausgeglichenes und relativ junges Pferd lernt sicher am schnellsten. Dagegen hat man in dieser Hinsicht mehr Probleme bei Pferden, die sich leicht ablenken lassen, hektisch reagieren, überfordert sind oder auch schon zu oft dabei frustriert wurden.“ Wie schnell ein Pferd lernt, hat deshalb auch damit zu tun, ob ich als Ausbilder in der Lage bin, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, die Aufgabe für das Pferd verständlich zu machen und seine Motivation zur Lösung der Aufgabe zu fördern. „Wenn ein Ausbilder weiß, ob sein Pferd schnell oder langsam lernt, wann er die Unterrichtsmethode wählen, die sich am besten für das jeweilige Pferd eignet“, betont Linda Tellington-Jones. „Ein intelligentes Pferd beispielsweise braucht weniger Wiederholungen einer Übung als ein nicht ganz so schlaues Pferd. Im Gegenteil – viele Wiederholungen würden es sogar langweilen, sodass es anfängt, sich etwas auszudenken. Oft endet dies in Widersetzlichkeiten, die letztendlich weder dem Ausbilder noch dem Pferd Spaß machen.“ Daher ist es wichtig, dass jeder Reiter versucht, einen Blick hinter die Fassade zu bekommen, um die Persönlichkeit seines Pferdes richtig einzuschätzen. Nur dann kann er es dementsprechend auch fördern.

Charaktere erkennen

„Die verschiedenen Charaktere lassen sich vor allem im Gesicht des Pferdes deuten. Schauen Sie sich zunächst sein Profil an und achten Sie auf die Mimik“, rät Dr. Ursula Pollmann. Danach, so empfiehlt Linda Tellington-Jones, könnten Sie tiefer gehen und die einzelnen Merkmale wie Augen, Ohren, Nüstern, Maul oder Kinn betrachten. Auch die verschiedenen Wirbel auf der Stirn und ihre Form würden einiges über den Charakter eines Pferdes aussagen. „Aber auch Fehlstellungen beziehungsweise Missbildungen können sich auf einen Charakter auswirken“, so Dr. Pollmann. „Wenn Fehlstellungen zu Schmerzen führen, insbesondere, wenn von solchen Pferden Dinge gefordert werden, die sie aufgrund ihrer Fehlstellungen nur unter Mühe oder Schmerzen leisten können, kann sich dies natürlich auf den Charakter derart auswirken, dass letztlich jede Anforderung des Menschen mit einer Abwehrhaltung beantwortet wird.“ Merkmale wie Ohren, Augen, Nüstern und Mund, so Expertin Linda Tellington-Jones, würden dem Betrachter im Gesamtbild zeigen, was für eine Persönlichkeit er vor sich habe und wie er das Pferd einschätzen müsse. „Das Gesamtprofil kann einem schon viel über den Charakter verraten“, erklärt sie. „So weist ein gerades Profil auf eine unkomplizierte Persönlichkeit hin und ein leichter Ramskopf auf ein starrsinniges Pferd, das langsam lernt. Ein schmaler Kopf mit kleinen Ganaschen deutet auf ein Pferd hin, das Probleme nur langsam löst und sich dabei aber trotzdem vollkommen auf seinen Reiter verlässt.“ Auch zeigen die Ohren, was für ein Lerntyp Ihr Pferd ist, wie Linda Tellington-Jones bestätigt: „Hat ein Pferd weit voneinander angesetzte Ohren, die eine unklare Form haben und bei denen die Spitzen noch weiter auseinandergehen als am Ansatz, haben Sie ein verlässliches Pferd vor sich. Lange, schmale Ohren, die steil aufgerichtet sind, weisen auf ein Pferd hin, das nicht nur etwas langsam denkt, sondern das auch leicht launisch sein kann.“ Die Form der Nüstern und Oberlippen zeigt also, ob ein Pferd intelligent, freundlich, neugierig oder extrovertiert ist: Gut ausgeformte Nüstern mit einer abgeschwächten Herzform der Oberlippe deuten auf ein freundliches Pferd hin, während ein Pferd mit nach oben zugespitzten, schön geformten Nüstern und einer gut ausgebildeten Oberlippe viel nachdenkt.

 

 

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