Jeder Reiter freut sich, wenn das eigene Pferd beim Betreten des Stalls freudig zur Begrüßung wiehert, schmusig im Umgang ist, willig und fleißig unter dem Sattel arbeitet und vertrauensvoll in jeder Situation mitgeht. Aber was tun, wenn das nur selten oder gar nicht so ist, sondern eher ganz anders? Jutta Herr, Reiterin und Coach, beschreibt ihre Lösungsansätze, die aus dieser Sackgasse herausführen

Ihr Pferd ist dominant oder sogar aggressiv Ihnen gegenüber? Manchmal schon beim Putzen und Führen, oft auch beim Reiten? Oder ist es triebig und sehr leistungsunwillig? Oder ist es unsicher und reagiert schreckhaft auf bestimmte oder neue Dinge in seinem Umfeld, vielleicht sogar noch gefolgt von purer Panik? Das sind Verhaltensweisen, die möchte kein Reiter erleben. Und doch können sie passieren. Jeder, der mit einem solchen Pferd umgeht, reagiert anders darauf, häufig mit Dominanz, Aggression, Wut, Unsicherheit oder Angst. Dann stehen beide, Pferd und Mensch, in der Sackgasse mit dem Kopf vor der Wand, und es scheint keine Lösung zu geben. Tatsächlich gibt es selten DIE eine Lösung, meist ist es eine Kombination von mehreren Dingen.

Geht es meinem Pferd gut?

Die wichtigste Frage, die Sie sich stellen müssen, ist, ob es Ihrem Pferd gutgeht. Pferde handeln nicht aus Vorsatz. Sie wollen nicht faul, böse oder aggressiv sein. Sie wollen uns nicht vorsätzlich provozieren oder in Angst und Schrecken versetzen. Also muss es einen Grund geben, warum Ihr Pferd sich so verhält. Stellen Sie sich daher bitte nachfolgende Fragen:

1. Ist mein Pferd gesund?

Soweit das Verhalten Ihres Pferdes sich nicht plötzlich verändert hat, sodass an eine akute Erkrankung zu denken wäre, kann es sich um Dinge handeln, die sich eher schleichend entwickeln. Dazu gehören beispielsweise:

Fellwechsel: Ein Fellwechsel stellt eine große Herausforderung für den Stoffwechsel des Pferdes dar. Das kann zu Mangelerscheinungen führen und sich in Gelenkbeschwerden und Muskelverspannungen zeigen.

Zähne: Sind die Zähne Ihres Pferdes gesund und ohne große Wellen und Haken? Eine Zahnentzündung ist für Pferde ähnlich schmerzhaft wie für uns. Haken können das Zahnfleisch verletzen; ebenso wie große Wellen beeinträchtigen sie das Mahlen der Zähne beim Fressen, sodass Ihr Pferd entweder weniger frisst oder das Futter schlechter aufspalten und damit schlechter verwerten kann. Die Folgen können Mangelerscheinungen oder schlicht Hunger sein.

Hormone: Störungen im Hormonstoffwechsel können zu Dominanzverhalten bei Hengsten und Stuten führen. Zysten an den Eierstöcken können schmerzhaft sein und die Bewegungslust und Losgelassenheit beim Reiten beeinträchtigen.

Magen/Darm: Hat Ihr Pferd Bauchschmerzen? Pferde sind stress- oder fütterungsbedingt anfällig für Magenschleimhaut- und Darmentzündungen, die mitunter wenig auffällig sind, sich manchmal durch Leistungsabfall oder Rittigkeitsprobleme oder nur milde Kolik-Symptome zeigen.

Leberentzündungen: Der Verzehr giftiger Pflanzen, Schwermetalle im Wasser oder überdüngte bzw. mit Pestiziden behandelte Weiden können zur Leberentzündung führen, die sich in Leistungsabfall und Leistungsverweigerung zeigt.

Hufe: Zu kurze und zu lange Hufe sind ebenso ungünstig wie ein falscher Beschlag oder Hufbeschnitt. Mit schmerzenden Hufen läuft ein Pferd nicht gut und nur unwillig. Wenn mehr als ein Huf betroffen ist, zeigt sich noch nicht einmal eine klare Lahmheit.

Muskulatur: Passt Ihr Sattel wirklich Ihrem Pferd? Auch ohne Druckstellen ist es dem Pferd unangenehm, wenn das Kopfeisen zu weit oder zu eng oder die Sattelkissen ungleich geworden sind, sodass Sie einseitig verschoben werden oder nicht mehr im Mittelpunkt sitzen oder die Schulterbewegungen bei jeder Rotation durch die vorderen Sattelpolster gehemmt werden.

Es gibt noch so viel mehr Gründe, warum die Gesundheit Ihres Pferdes aus der Balance geraten sein könnte. Bitten Sie Ihren Tierarzt oder einen erfahrenen Tierheilpraktiker um eine Untersuchung. Hilfreich ist es zudem, wenn Sie sich mehr Zeit für das Putzen Ihres Pferdes nehmen. Und dabei beobachten, ob und wie Ihr Pferd auf Ihre Berührungen und das Putzen mit dem Striegel reagiert, ob es Bisswunden von Nachbarn in der Box oder der Koppel hat oder ob Ihnen Schwellungen auffallen.

2. Stimmen die Umfeldbedingungen für mein Pferd?

Diese Frage ist eine der schwierigsten, denn die kann Ihnen letztlich nur Ihr Pferd beantworten. Zu den Umfeldbedingungen gehören die Fütterung (Art, Menge, Häufigkeit), der Stall, die Box inklusive der Nachbarn, die Koppelgruppe und Koppeldauer, der Offenstall und die Offenstallgruppe, die Bewegungsdauer und -häufigkeit sowie die Art und Abwechslung des Trainings. Ist Ihr Pferd zu vielen oder zu wenigen Umweltreizen ausgesetzt? Braucht Ihr Pferd (mehr) Ruhe, findet diese aber nicht? Oder ist Ihrem Pferd schlicht und einfach langweilig? Anhaltspunkte finden Sie, wenn Sie Ihr Pferd selbst intensiv beobachten, die Stallbesitzer und Einsteller fragen, die zu anderen Zeiten im Stall sind und sehen, wie Ihr Pferd sich verhält, wenn Sie nicht da sind, und schließlich durch Ausprobieren. Verändern Sie jedoch nicht mehr als eine Sache auf einmal, sonst erkennen Sie nicht, was wirklich die Ursache ist.

3. Passen meine Erwartungen zu meinem Pferd?

Sie werden sich aus gutem Grund genau für Ihr Pferd entschieden haben. Oftmals entscheidet dabei das Herz mehr als der Kopf. Und der Kopf sagt: „Na, was noch nicht passt, mache ich halt passend.“ Warum soll das, was beim eigenen Partner danebengeht, bei Ihrem Pferd gelingen? Wenn Ihre Leidenschaft das entspannte Reiten auf dem Platz und das chillige Ausreiten ist, kommt bei Ihnen mit Sicherheit jedes Mal großer Frust auf, wenn Ihr Pferd sich an der frischen Luft wie Speedy Gonzalez, die schnellste Maus von Mexiko, benimmt. Auch wenn Sie sich bewusst für das Rentner- oder Problempferd entschieden haben, das Ihnen als ideales Pferd für die Bodenarbeit und Spaziergänge an der Hand verkauft wurde, fehlt Ihnen nun doch das Training im Sattel, sodass Sie mittlerweile im Stall frustriert den anderen beim Reiten zuschauen und nur noch das Notwendigste mit Ihrem Pferd machen? Hat Ihr Pferd Sie beim Kennenlernen so lieb angeschaut, dass Sie nicht widerstehen konnten – obwohl Sie als ambitionierte Freizeitreiterin wussten, dass Ihr Pferd keine Turniere mehr gehen kann? Dann haben Sie unbewusst gezielt die Sackgasse angesteuert. Denn Ihr Pferd spürt Ihren Frust. Und reagiert darauf. Sie haben die Wahl, sich wieder zu erinnern, warum Sie sich in Ihr Pferd verliebt haben, sodass Sie auf dieser Basis zurück zu Ihrem Pferd finden. Es gibt die ehrliche Option, dass Sie sich von Ihrem Pferd trennen und es in gute Hände abgeben, sodass Sie den Weg frei machen für den vierbeinigen Partner, den Sie sich wirklich wünschen. Sie können allerdings auch Ihre Emotionen und damit ihre Haltung verändern, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie von inneren Blockaden an dem Erleben des Glücks mit Ihrem Pferd gehindert. Dazu später mehr.

4. Wie beeinflusse ich mein Pferd?

Tatsächlich lautet die Frage nicht, OB Sie Ihr Pferd beeinflussen, sondern lediglich WIE. Denn Pferde sind Meister im Lesen unserer Emotionen. Als Fluchttiere lesen Pferde ständig ihre Herde und die Signale in der Umgebung, um Gefahren frühzeitig wahrzunehmen und gegebenenfalls in Flucht umsetzen zu können. Ihre Wahrnehmung ist so stark ausgeprägt, dass sie aus unserer Körperhaltung, unserer Muskelspannung, unserer Atmung, unserer Herzfrequenz, unserem Schweißgeruch und sogar aus unserer Mimik lesen. Deshalb merken Pferde auch, ob wir es tatsächlich so meinen, wie wir tun, da eine Divergenz in einem unserer Signale sofort wahrgenommen wird. „So tun als ob“ funktioniert nicht. Wenn Sie also gestresst, genervt, angespannt, müde, wütend oder nervös zu Ihrem Pferd gehen, wundern Sie sich nun sicherlich nie wieder, warum Ihr Pferd auf Distanz oder in die Diskussion mit Ihnen geht. Der Weg MIT dem Pferd geht nur über die eigene innere Ausgeglichenheit.

5. Wie gut kenne ich das Lebewesen Pferd und insbesondere mein Pferd?

Je mehr Sie über Pferde wissen, umso besser können Sie das Verhalten und die Sprache Ihres Pferdes lesen. Besonders gut finde ich die Bücher von Dr. Vivian Gabor, Biologin und Pferdewissenschaftlerin.

Hilfreich ist auf jeden Fall eine gute Beobachtung des Pferdes, und sich Zeit zu nehmen. Pferde kommunizieren selten laut, sondern meist nur mit leisen Signalen von Augen, Ohren, Muskulatur, Schweif, Körperhaltung und -spannung. Um diese Veränderungen wahrzunehmen, reicht manchmal das Hinschauen im entscheidenden Moment, andere Signale werden erst bei entsprechend geschultem Blick oder durch Berührung sichtbar. Einen Aspekt des Herdentieres gilt es besonders zu beachten: Pferde überlassen anderen die Führung, wenn sie dem Führenden vertrauen. Dieses Vertrauen müssen wir uns verdienen, denn das Pferd sucht Sicherheit in allen Reaktionen, Erfahrung und Umsicht. Daraus werden drei Konsequenzen klar, nämlich dass Unterwerfen nicht von Erfolg gekrönt ist, uns die Gefolgschaft entzogen wird, wenn wir aus Sicht unserer Pferde schlechte Führende sind, und dass wir eine mental klare und gleichzeitig gelassene Haltung benötigen.

Kommunikation: Innere Balance des Reiters

Im Leistungssport ist Mental-Coaching inzwischen weit verbreitet, auch die Kadermitglieder im Pferdesport nutzen es zur Verbesserung ihrer Leistungen im Training und im Wettkampf. Der Schwerpunkt liegt dabei meist auf mentaler Stärke. Der aus dem Englischen stammende Begriff lautet „mental toughness“ und zeigt, dass der Fokus auf Selbstbestimmtheit, Klarheit, Abgrenzung und einer gewissen Härte gegen sich selbst liegt (siehe Kasten).

Unser Sport unterscheidet sich allerdings von allen anderen Sportarten dadurch, dass wir mit einem lebenden Partner agieren und für ihn die Verantwortung tragen. Daher ist die mentale Stärke zu unsensibel und zeigt nicht die wirklich passende Haltung für Reiter. Die zentrale Haltung im Umgang mit dem Pferd ist aus meiner Sicht die innere Balance des Reiters.

Die Assoziationen zu „Balance“  zeigen, dass es sich um etwas Dynamisches handelt, also ein Zustand, der aus dem Gleichgewicht geraten und wieder in das Gleichgewicht zurückgeführt werden kann. Ausgehend von dem Bewusstsein, dass ein Pferd nicht mit Vorsatz agiert, sollten Emotionen als Reaktion auf ein Verhalten des Pferdes schnell wieder verbannt werden. Das ist auch aus einem weiteren Grund notwendig: Pferde sind nicht nachtragend. Wir Menschen gelegentlich schon. Damit kann ein Pferd aber nicht umgehen, denn in seiner Welt erlebt es auf eine Aktion wie ein Zurechtweisen in der Herde mit entsprechender Reaktion sofort eine neutrale Haltung. Das Pferd den eigenen Frust ausbaden zu lassen oder für ein unerwünschtes Verhalten aus Ärger, Wut, Angst oder Enttäuschung heraus zu strafen stresst das Pferd und führt nicht zu einem gewünschten Verhalten. Denn Pferde können unter Stress deutlich schlechter lernen. Das gilt erst recht für unsichere und ängstliche Pferde, die Führung und Sicherheit suchen und von Anspannung und Stress noch mehr verschreckt werden. Anja Beran gehört dankenswerterweise zu den Ausbildern, die klar sagen, dass der Reiter dafür verantwortlich ist, seinem Pferd Ruhe zu vermitteln. Dafür benötigt der Reiter jedoch selbst innere Ruhe und Gelassenheit, also innere Balance.

Bewusstsein schaffen durch Visualisierung

Der erste Schritt zur inneren Balance ist das Erkennen des eigenen tatsächlichen inneren Zustands. Auch wenn wir meinen, ruhig und entspannt zu sein, kann es eine deutliche Fehldiagnose sein. Nehmen Sie sich bitte einen Moment Zeit, im Stehen oder im Sitzen, und legen Sie die Fingerspitzen beider Hände mit leichter Berührung aneinander. Atmen Sie dabei normal weiter und achten Sie darauf, ob und was sich in Ihren Fingern und Händen tut. Vielleicht spüren Sie nichts. Vielleicht spüren Sie ein leichtes Kribbeln. Vielleicht ist es ein Gefühl des Strömens in Ihren Handflächen und Fingern. Alles ist gut und richtig. Genießen Sie diesen Moment. Als Nächstes visualisieren Sie bitte vor Ihrem geistigen Auge das Wort „Balance“. Was immer Ihnen dazu als Bild in den Sinn kommt. Sie werden sofort erkennen, ob Sie ein ruhiges Gleichgewicht sehen oder eine mehr oder weniger deutliche Abweichung davon. Mit Hilfe dieser Aufmerksamkeitsfokussierung verrät uns unser Unterbewusstsein einen sehr guten Indikator für unser inneres Gleichgewicht. Mit einer deutlichen Dysbalance steigen Sie besser erst gar nicht aufs Pferd.

Text: Jutta Herr     Foto: Getty images/ Westend

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