Schmerzen erkennen Pferde sind nicht besonders gesprächig, wenn es darum geht, mitzuteilen, ob und wo ihnen etwas wehtut. Aus diesem Grund liegt es in der Verantwortung des Menschen, seinen Vierbeiner genau zu beobachten, um herauszufinden, ob er Schmerzen hat

Schmerzen sind sowohl beim Menschen als auch beim Tier eine sehr individuell zu betrachtende Sache, für die zahlreiche Definitionen auftauchen. Eine weit verbreitete und anerkannte Definition ist die der „Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes“ (International Association for the Study of Pain, IASP): „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ Durch diese Definition wird deutlich, dass akuter Schmerz ein Warnmechanismus des Körpers ist – sozusagen die Alarmanlage für den Organismus, um gravierendere Störungen zu vermeiden.

Schmerz kann beim Pferd viele verschiedene Ursachen haben, von einer Verletzung oder Erkrankung über unpassendes Equipment bis zu altersbedingten Verschleißerscheinungen. Bei der Nutzung als Reitpferd spielen das passende Equipment und pferdegerechtes Training eine große Rolle in der Gesunderhaltung des Pferdes. Ein unpassender Sattel verursacht zunächst Druckschmerz im Bereich des Rückens, der mit der Zeit schmerzhafte Fehlhaltung bedingt. Generell muss zunächst zwischen akutem und chronischem Schmerz unterschieden werden. „Akute Schmerzen entstehen beispielsweise bei einer Kolik und werden vom Pferd meist deutlich geäußert – beispielsweise durch Unruhe, Schwitzen und Treten in Richtung des Bauchs“, erklärt Pferdeverhaltenstherapeutin Alexandra Edinge. „Im Gegensatz dazu kommen chronische Schmerzen schleichend und entwickeln sich über einen längeren Zeitraum. Die Anzeichen sind weniger offensichtlich und werden daher oft erst spät – oder gar nicht – erkannt.“ Chronische Schmerzen entstehen unter anderem bei Magengeschwüren, Arthrosen oder anderen lang anhaltenden Schmerzzuständen. Generell ist Schmerz sowohl bei Menschen als auch bei Tieren eine sehr subjektive, individuelle Empfindung: Manche Pferde lahmen bereits bei einer kleinen Abschürfung am Bein, während andere Pferde auch mit einem Hufgeschwür noch klar laufen.

Instinktiv den Schmerz vertuschen

Wenn ein Kind sich den Kopf stößt, äußert es in den meisten Fällen Sekunden später seinen Schmerz durch Schreien und Weinen. Verletzt ein Hund sich an der  Pfote, so quittiert er jede Berührung der schmerzhaften Stelle durch Jaulen. Verbal ausgedrückter Schmerz lässt sich nicht überhören und wird daher schnell wahrgenommen. Allerdings haben Pferde keinen Laut, mit dem sie Schmerzen ausdrücken, weshalb die Gefahr besonders groß ist, dass Schmerzen nicht ausreichend wahrgenommen oder falsch eingeschätzt werden. Dies ist unter anderem in ihrer Charakteristik als Flucht- und Beutetier verankert: „In freier Wildbahn würde ein Schmerzlaut des Pferdes einem potenziellen Fressfeind Schwäche signalisieren und das Pferd somit in Gefahr bringen. Der Überlebensinstinkt der Pferde ist daher darauf ausgelegt, Schmerzen bis zu einem gewissen Grad zu verbergen und Schmerzensäußerungen zu unterdrücken“, erläutert die Pferdeverhaltenstherapeutin Alexandra Edinge. Zudem können Schmerzen auch durch verschiedene Einflussfaktoren – beispielsweise Stress – unterdrückt werden. Daher zeigen Pferde häufig in Stresssituationen oder ungewohnter Umgebung weniger Schmerzen – beispielsweise verschwindet die Lahmheit beim Vortraben in der Klinik plötzlich.

Aus diesem Grund liegt es in der Verantwortung des Menschen, sein Tier genau zu beobachten, um Schmerzen möglichst frühzeitig zu erkennen. Für die Beobachtung spielen unter anderem die Mimik und  die Körperhaltung sowie das Verhalten des Pferdes eine wichtige Rolle. Generell sollten Änderungen in allen Bereichen genau beobachtet werden: Schon feine Nuancen in der Ausdrucksweise – insbesondere im Bereich des Kopfes – oder dem Verhalten des Pferdes können auf Schmerzen hindeuten.

Genau beobachten, richtig interpretieren

Häufig wird das Verhalten von Pferden vom Menschen missverstanden. So werden Verhaltensauffälligkeiten wie Steigen, Buckeln, Durchgehen oder Stehenbleiben beim Reiten häufig als Unart abgetan und das Pferd gestraft. Alexandra Edinge erklärt, warum solche Verhaltensweisen auch ein Anzeichen für Schmerzen sein können: „Ein Pferd zeigt die genannten Verhaltensauffälligkeiten in Situationen, in denen der Schmerz das auszuhaltende Maß überschreitet und das Pferd diesem entkommen möchte. Solche Reaktionen werden häufig missinterpretiert und bestraft, dabei sollte man die Reaktion des Pferdes hinterfragen und nicht als Ungehorsam verurteilen. Insbesondere das Durchgehen ist häufig ein Anzeichen für Schmerzen, da die Flucht die stärkste Waffe des Pferdes ist.“

Generell sind Abweichungen vom normalen Verhalten des Pferdes – sowohl innerhalb der Herde, bei der Futteraufnahme als auch im Training – Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Hält sich Ihr Pferd beispielsweise eigentlich immer inmitten der Herde auf und interagiert mit seinen Artgenossen, so sollten Sie hellhörig werden, wenn Ihr Pferd sich plötzlich abschottet und teilnahmslos abseits steht. Ebenso sollte man es hinterfragen, wenn ein Pferd mit einem ehemals ruhigen Gemüt, das eher triebig war, plötzlich im Training – ob an der Longe oder unterm Reiter – häufiger durchgeht. Solche und ähnliche Verhaltensänderungen sollten keinesfalls als Temperamentsausbruch oder Ungehorsam abgetan werden – allzu häufig können sie ein Zeichen für Schmerzen sein. Dabei müssen sich Verhaltensänderungen nicht zwangsläufig  negativ – beispielsweise in Form von Bocken, Steigen oder Treten – äußern, sondern können sich auch in vermeintlich positiven Eigenschaften – wie größerem Fleiß unter dem Reiter – äußern. Arttypische Verhaltensweisen wie Gähnen und Flehmen werden ebenso häufig falsch interpretiert (siehe unten). Auch Scharren wird oft als Unart abgetan: „Ein scharrendes Pferd muss immer im Kontext betrachtet werden. Steht man mit einem Futtereimer vor dem Pferd, und dieses beginnt zu scharren, so drückt dies Ungeduld aus, das Futter zu bekommen“, so Alexandra Edinge. „Scharrt ein Pferd allerdings häufig unabhängig von der Fütterungssituation, so könnte dies auch ein Zeichen für Schmerzen sein. Insbesondere wenn das Pferd beim Scharren zudem noch die Ohren angelegt hat und gegebenenfalls muskuläre Anspannungen im Bereich des Unterkiefers und oberhalb der Augen offensichtlich werden.“ Schlägt ein Pferd beim Training oft mit dem Schweif, so kann dies unterschiedliche Ursachen haben: Zum einen kann es ein weiteres Anzeichen für Schmerz sein, und zum anderen kann es auch Unwohlsein ausdrücken. „Pferde drücken auch Unlust, Unverständnis oder Unwohlsein im Training durch Schweifschlagen aus, beispielsweise wenn sie eine Lektion nicht ausführen möchten oder diese nicht verstehen“, erklärt die Expertin. „In solchen Zusammenhängen muss das gesamte Pferd betrachtet werden – insbesondere die Mimik und die generelle Körperanspannung –, um zwischen Unwohlsein und Schmerzen zu unterscheiden.“ Insgesamt müssen alle Verhaltensweisen immer im Gesamtzusammenhang unter Berücksichtigung der Gegebenheiten und auf das individuelle Pferd bezogen betrachtet werden. Reißt man eine Verhaltensweise aus dem Zusammenhang, so ist diese noch kein Anzeichen für Schmerzen – beispielsweise das Scharren kurz vor der Fütterung. Viele der genannten Verhaltensweisen sind relativ unspezifisch, dies bedeutet, dass sie auf Schmerzen hindeuten können, aber nicht unbedingt müssen.

Ein Blick ins Gesicht lohnt sich

Insbesondere für den Laien – also den Pferdebesitzer ohne wissenschaftlichen Hintergrund im Bereich Veterinärmedizin oder Pferdeverhalten – ist es oftmals gar nicht so einfach zu erkennen, ob das Pferd Schmerzen hat. Neben Änderungen im Verhalten kann auch die Mimik des Pferdes Aufschluss über den Zustand des Tieres geben.

Zu diesem Zweck entwickelte ein internationales Forscherteam im Jahr 2014 die „Horse Grimace Scale“ (HGS). Diese Skala ermöglicht die Schmerzbeurteilung – inklusive des Schweregrads – bei Pferden anhand des Gesichtsausdrucks. Dabei werden die Ohren, die Augen- und Maulpartie, die Nüstern sowie die Kaumuskulatur betrachtet (siehe Grafik auf der Seite 26). Jeder dieser Bereiche wird entsprechend der Ausprägung der Merkmale auf einer Drei-Punkte-Skala bewertet: null Punkte für keinen Schmerzausdruck, ein Punkt für moderaten Schmerzausdruck und zwei Punkte für starken Schmerzausdruck. Die Einzelbewertungen ergeben ein Gesamtergebnis zwischen null und zwölf Punkten: Null Punkte bedeuten keine Schmerzen, und zwölf Punkte bedeuten starke Schmerzen. Die „Horse Grimace Scale“ richtet sich sowohl an Fachleute zur Therapiekontrolle als auch an geschulte Laien. Allerdings birgt sie auch ein Potenzial für Fehlinterpretationen, so Alexandra Edinge: „Die Horse Grimace Scale ist sicherlich ein gutes Instrument zur Schmerzerkennung. Allerdings ist die Umsetzung durch den Pferdebesitzer nicht immer akkurat. Daher sollte beim Verdacht auf Schmerzen meiner Meinung nach unbedingt eine Fachperson hinzugezogen werden.“ Generell muss immer der Kontext der Beobachtung beachtet werden: So werden beispielsweise viele Pferde am Tag nach Silvester noch angespannt sein. Beobachtet man an einem solchen Tag sein Pferd, so kann es sein, dass das Ergebnis Schmerzen vermuten lässt. Aufgrund der Gegebenheiten ist dies allerdings vermutlich ein Fall von Angst und sollte nicht mit Schmerzen verwechselt werden. Angst und Schmerzen haben teilweise ähnliche Ausprägungen in der Mimik des Pferdes. Für eine genaue Analyse sollte das Pferd in seiner gewohnten und ruhigen Umgebung beobachtet werden, damit die Beurteilung nicht verfälscht wird.

Empfehlung: Zeit nehmen

Wie bereits festgestellt, fehlt Pferden die Möglichkeit zur verbalen Schmerzäußerung. Daher ist genaue Beobachtung seitens des Besitzers gefragt, um anhand der Mimik, der Körpersprache und des Verhaltens Schmerzen erkennen und bewerten zu können. Pferdeverhaltenstherapeutin Alexandra Edinge empfiehlt jedem Pferdebesitzer, sich einmal die Woche etwa 15 Minuten Zeit zu nehmen, um sein Pferd zu beobachten – im Offenstall, auf der Koppel oder auch im Training: „Schreiben Sie auf, was Ihnen an Ihrem Pferd auffällt. Zu Beginn wird den meisten nicht allzu viel auffallen. Aber je mehr man sich für die Körpersprache seines Pferdes interessiert, desto mehr Details im Verhalten werden offensichtlich. Nehmen Sie sich einfach die Zeit und beobachten Sie Ihr Pferd – ohne dabei etwas von ihm zu verlangen. Beobachten Sie, wie sich Ihr Pferd in der Interaktion mit Artgenossen, beim Fressen und vielen anderen Situationen verhält. Durch diese Beobachtung schulen Sie Ihren Blick und bekommen genaue Kenntnisse über die Verhaltensweisen des eigenen Pferdes.“

Und nur durch genaue und regelmäßige Beobachtung kann der Mensch feine Nuancen in der Ausdrucksweise und dem Verhalten sowie Änderungen ebendieser erkennen und einschätzen – und frühzeitig Schmerzen zu bemerken. Pferde sind auch in der Schmerzäußerung sehr individuell: Bei manchen Pferden lassen sich Schmerzen eher im Bereich der Augen erkennen, während bei anderen Pferden die Maul- und Nüsternpartie ein stärkerer Indikator ist. Nur wer sein Pferd und dessen individuellen Verhaltensweisen genau kennt, ist in der Lage, Schmerzen frühzeitig zu erkennen.

Text: Nicole Buchholz     Foto: www.Slawik.com

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