Text: Nicole Audrit Foto: Daniel Elke
Eine etwa 0,3 Millimeter dicke Nadel wird der Friesenstute Finja ins Sprunggelenk gestochen. Finja wird aufgrund einer Arthrose in diesem Gelenk regelmäßig akupunktiert. Da Pferde sehr empfindliche Tiere sind und sich teilweise schon gegen eine Spritze vom Tierarzt sträuben, überrascht die Reaktion der Stute: Sie gähnt, senkt den Kopf und fängt an zu dösen. Dies ist kein Einzelfall, der Großteil der Pferde genießt eine und entspannt sich bei einer Akupunkturbehandlung. In einigen Fällen muss eher der Besitzer den Blick abwenden, da ihm die Nadeln nicht ganz geheuer sind.
Traditionelle Chinesische Medizin
Die Akupunktur ist ein Teilgebiet der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) und erfreut sich seit 1950 sowohl in der Human- als auch der Veterinärmedizin in Europa wachsender Beliebtheit. In China hingegen ist die Therapie mit den Nadeln bereits seit mehreren Jahrtausenden bekannt und wird vielseitig eingesetzt. Der Begriff Akupunktur setzt sich aus den lateinischen Worten „acus“ und „punctio“ zusammen, die übersetzt „Nadel“ und „stechen“ bedeuten. Um die Wirkweise der Akupunktur zu verstehen, muss man sich gegenüber der chinesischen Ansicht von Körper, Geist und Energie öffnen: Diese besagt, dass die Lebensenergie, das sogenannte Qi, in Leitbahnen – auch Meridiane genannt – durch den Körper fließt. Pferde haben zwölf Hauptmeridiane, auf denen auch ein Großteil der Akupunkturpunkte liegt. Das Leitbahnsystem ist mit einem Autobahnnetz vergleichbar, in dem in einer Endlosschleife Autos und Lkw fahren: Ein Stau verhindert einen flüssig fließenden Verkehr und entsteht beispielsweise durch einen Unfall. Der Stau löst sich häufig durch die Sicherung des Unfallortes und die Entfernung der beschädigten Fahrzeuge auf. Auf das Pferd übertragen, entsteht durch eine Blockade des Energieflusses eine Erkrankung oder Verspannung. Im Falle der Akupunktur dienen die Nadeln als Abschleppwagen, der die Blockade aufhebt und das Qi wieder fließen lässt. Zusätzlich wirkt die Nadel stimulierend und aktiviert die Selbstheilungskräfte des Körpers. Lange glaubte man in westlichen Kreisen nicht an die Wirkung der Nadeln, heute bestehen an ihrer Wirkung keine Zweifel mehr.
Punkt für Punkt
Bevor Nadeln oder Akupunkturlaser jedoch zum Einsatz kommen, steht eine ausführliche Anamnese auf dem Programm. Dabei beurteilt der Therapeut den allgemeinen Gesundheitszustand des Pferdes, inklusive des Fells, der Schleimhäute, des Pulses und des Muskeltonus. Zudem wird der Pferdebesitzer zum Verhalten, dem Charakter und der Vorgeschichte des Patienten befragt. Anschließend steht die eigentliche Untersuchung an, dabei fährt der Akupunkteur mit einem Stäbchen die diagnostischen Punkte auf den Leitbahnen ab: Eine abwehrende oder ausweichende Reaktion deutet auf eine Störung des Energieflusses und somit einen Schmerzpunkt hin. Anhand der Reaktionen des Pferdes und kaum merklichen Veränderungen entlang der Leitbahnen erstellt der erfahrene Therapeut eine Diagnose mit den zu nadelnden Punkten. Laut Petra Kuske gibt es unterschiedliche Akupunkturkonzepte: Entweder schmerzorientiert bei akuten Problemen oder systemorientiert bei chronischen Krankheiten. Auch unterscheidet sich die Behandlung durch den Status der Krankheit – akut oder chronisch: bei Ersterem reichen meist wenige, kurz aufeinanderfolgende Behandlungen, während bei chronischen Problemen regelmäßige Behandlungen in größeren Intervallen empfehlenswert sind.
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