„Pferde sind keine Höhlenbewohner“, sagt Anne Krüger-Degener. Sie sollten lernen, mit Reizen umzugehen. Die Ausbilderin erklärt im letzten Teil unserer HarmoniLogie-Serie®, wie Sie Ihren vierbeinigen Partner an Reizlagen heranführen und warum ein guter Dialog die Grundlage für sportliches Training ist
Unsere Pferde haben Augen gemacht, als wir nachts Nachbars Kühe, die ausgebüxt waren, aufgenommen haben. Ich bat darum, sie noch ein paar Tage behalten zu dürfen, weil es wieder ein neuer Reiz war, der unseren Pferden so guttat“, schreibt Anne Krüger-Degener in ihrem Werk „Wenn Pferde Komplimente machen“. Die meisten von uns hätten wohl gewollt, dass die Kühe so schnell wie möglich den Hof verlassen, damit sich die Pferde nicht so aufregen. Die Expertin aber freut sich über jeden neuen Reiz für ihre Tiere. Sie trainiert sie mit ihren vierbeinigen Partnern sogar ganz gezielt.
Bindung festigen
Für die Ausbilderin sind nicht nur Kühe, sondern auch Traktoren, laute Musik, Applaus usw. schlichtweg Situationen, mit denen sich die Tiere in der Menschenwelt vertraut machen sollten, ohne dabei die Flucht ergreifen zu wollen. Diese Auseinandersetzung ist ein wichtiger Baustein in der HarmoniLogie-Lehre®. Doch die Pferde müssen Reize nicht allein bewältigen. Anne Krüger-Degener sieht den Menschen dabei als Führer, Unterstützer und Vertrauensperson.
„Angepasst an das Maß, in dem das Pferd an den Hilfen des Reiters steht, können Reizlagen im Training inszeniert werden. Der Horizont sollte nicht beschränkt sein auf bunte Sprünge, die weiße Einfassung des Vierecks und jede Menge Sand“, sagt sie. So wachsen die nervliche Belastbarkeit und der Gehorsam gleichermaßen. „Und das sollte die Grundvoraussetzung sein, wenn man dem Pferd die Welt erklären möchte“, meint die Ausbilderin. Aber auch die Beziehung zwischen Mensch und Tier wird dabei intensiviert und profitiert von unterschiedlichsten Herausforderungen, die gemeinsam bewältigt werden. „Beginnen wir, ein Reitpferd zu formen, sollten wir es umfangreich schulen, seine Stärken stärken und die Schwächen schwächen. Lassen Sie Ihr Pferd daher am Leben teilnehmen. Der beste Ort dafür ist das Gelände. Ist man häufig und ausgiebig draußen, dann geht vieles wie von selbst. Das ist es, was wir die Ausbildung zum Pferd nennen“, so die Tiertrainerin.
Reize trainieren
Aber auch auf dem Reitplatz oder in der Halle lassen sich mit ein wenig Kreativität Reizlagen schaffen; eine Bluetoothbox am Rand, eine Applaus-App vom Handy, usw. Hierbei werden Sie feststellen, dass die Vierbeiner als Gewohnheitstiere ihre eigene umdekorierte Halle meist gruseliger finden als eine komplett fremde Halle. „Das Bedrohungssystem schlägt aufgrund der Veränderungen in der heimischen Halle ordentlich Alarm. Jetzt muss ich das Bindungssystem in Gang setzen, um das Bedrohungssystem wieder zu beruhigen. Durch das Stellen von Aufgaben, den Abbau von Adrenalin sowie die Lobrituale bekomme ich das Pferd mental schnell wieder auf meine Seite“, sagt sie.
Ihr Tipp für das Reizlagen-Training: „Arbeiten Sie das Pferd zunächst an der Hand. Nutzen Sie Gebote statt Verbote. Fordern Sie Ihr Pferd und verlangen Sie Lektionen wie Wenden, Weichen oder Kopfrunter. Passen Sie aber die Fragen der Möglichkeit, Antworten zu bekommen, an.“ Gelingt eine Aufgabe nur auf der linken Hand? Das macht doch nichts, dann arbeiten Sie einfach so lange links weiter, bis das Pferd Ihnen Signale der Entspannung sendet, im besten Fall kaut und den Hals fallen lässt. Erst dann fragen Sie die Lektion auch auf der rechten Hand ab. Und bald können Sie das Pferd ebenso aus dem Sattel an diese Reize heranführen.“ Wichtig zu wissen: Beim gewöhnlichen Training sollten Sie die Reizlage nur sehr langsam erhöhen. Bei einer neuen Fragestellung (z. B. einer neuen Lektion) ist es ratsam, die Reize erst einmal wieder abzustellen, damit Ihr Pferd in Ruhe und mit voller Konzentration lernen kann. Ansonsten besteht die Gefahr, es mit der gestellten Aufgabe zu überfordern.
Bist du einverstanden?
Doch wie erkennt der Reiter, ob er vielleicht die Grenze seines vierbeinigen Partners erreicht oder sogar überschritten hat? „Fragen Sie Ihr Pferd doch selbst“, antwortet Anne Krüger-Degener und beschreibt folgendes Ritual nach dem Reiten: „Wenn ich z. B. die ersten Traversalen einübe und eine Hilfe mal etwas mehr durchsetzen muss, frage ich mein Pferd hinterher: ,Hey, bist du mit dem, was ich mache, noch einverstanden?‘ Dafür steige ich nach dem Reiten ab und kraule die Schweifrübe. Wenn sich diese leicht und sofort anhebt, dann weiß ich, es war alles okay. Wenn sie aber klemmt und sich nicht sofort löst, dann muss ich meine große Frage das nächste Mal in etliche kleine aufteilen, weil ich möglicherweise an eine Grenze gekommen bin. Wir Menschen müssen, wenn wir mit Tieren arbeiten, unser eigenes Tun hinterfragen und unsere Intelligenz einsetzen“, erklärt sie.
Die Frage „Ist das, was ich hier mache, noch im Sinne des Pferdes?“ ist aber vom Sattel aus viel schwieriger zu beantworten als vom Boden, da das Sichtfeld des Reiters eingeschränkt ist. Er kann nicht das ganze Pferd (von Kopf bis Schweif) wahrnehmen, um dessen Körpersprache im Gesamten zu deuten. Das ist die eine Herausforderung für den Reiter. Die andere: Es gibt viele Pferde, die selbst über ihre eigenen Grenzen hinausgehen, weil sie uns Menschen einen Gefallen tun wollen. „Manchmal ist jedoch auch eine Menge Zwang beim Reiten dabei. Die Tiere können dann einfach nicht anders, bis sie irgendwann sehr eindeutig sagen: „Halt, stopp, so geht es nicht mehr!“, merkt die Expertin an. Das heißt nicht, dass Reiten ein einziger Schmusekurs sein soll, denn es gehe dabei immer auch um die sportliche Ausbildung des Pferdes, aber eben mit dem Einverständnis des Tieres, betont Anne Krüger-Degener. Und dieses können sie sich bereits vor dem Reiten einholen. Die Lösungsphase ist dafür ideal geeignet.
Lösende Arbeit
Die Ausbilderin gestaltet die lösende Arbeit auf drei Ebenen: der kognitiven, der emotionalen und der sportlichen. Die kognitive Ebene hat zum Ziel, das Pferd durch ein spielerisches Frage-und-Antwort-Spiel mental auf seine Seite zu bringen. Nach dem Motto: Hörst du mir zu? Bist du mit deinem Geist wirklich bei mir? Auf der emotionalen Ebene dreht sich alles um das Wohlbefinden des Tieres. Nur wenn es sich bei seinem Reiter wohlfühlt, zeigt es auch echte Leistungsbereitschaft unter dem Sattel. Und auf der dritten Ebene geht es schließlich um den Körper des Pferdes. Der Reiter löst es körperlich mit z.B. einer langen Schritttour, einem lockeren Trab und einem frischen, nach vorne gerichteten Galopp.
Die ersten beiden Ebenen lassen sich optimal am Boden erarbeiten. „Eines meiner Pferde löse ich so mit etwa sieben Minuten Handarbeit. Ich lasse es folgen, weichen, Kompliment machen und baue Lobrituale ein. Das ist ein bisschen so, als würden wir unseren Namen tanzen“, sagt Anne Krüger-Degener augenzwinkernd. Aber genau das ist es, was zur Entspannung führt. „Es will zu mir. Es will mir folgen. Wenn ich jetzt mit der sportlich-lösenden Arbeit beginne, habe ich ein Pferd, das geistig und emotional auf meiner Seite ist, jetzt brauche ich es nur noch sportlich aufzuwärmen. Mit dieser Art der Lösephase habe ich wirklich wahnsinnig Erfolg“, verrät sie. Während des Reitens baut sie außerdem immer wieder Pausen im Halten ein. „Wir reiten den Schritt als Gangart. Er bedeutet für uns keine Pause“, erläutert sie. In den Stehpausen aber krault sie ihre Pferde so lange, bis sie ihr signalisieren, noch ein bisschen weiter zu loben, und das Kraulen geradezu einfordern. Dann weiß sie, dass das Lob auch wirklich als solches angekommen ist.
Dialog mit dem Pferd
Um die Motivation und das Mitdenken der Pferde im Training zu erhalten, können sich Reiter zudem am „Besser als“-Prinzip orientieren, rät Anne Krüger-Degener. „Erkläre ich einem Pferd zum Beispiel die Galopphilfe, und es springt tatsächlich unmittelbar an, aber leider im Außengalopp, dann ist das besser, als spränge es gar nicht an, buckelte oder blockierte. Also: Gut gemacht! Und nun suche ich die bessere Position, den besseren Rhythmus, die bessere Fußfolge, das bessere Gleichgewicht, um meine Frage an das Tier erneut zu stellen. Durch dieses Vorgehen entwickelt das Pferd Lust, Fragen zu beantworten, nach Lösungen zu suchen und mitzuarbeiten. Und es ist die Kunst, die der Meister beherrschen sollte, wenn er möchte, dass der Schüler das Beste aus sich herausholt“, sagt sie.
Ziel des Reitens sollte es sein, eine körperliche Auslastung mit gesunden Bewegungsmustern und ein aufgeräumtes, strukturiertes Inneres zu schaffen. „Nur dann erfahren wir eine gelungene Sinfonie aus Geisteswissenschaft und Sport“, ist sich Anne Krüger-Degener sicher. Dabei gilt: zuerst die Bindung zum Pferd stärken, bevor sportliche Leistungen verlangt werden. Das ist der Kern der von ihr entwickelten HarmoniLogie-Lehre®. „Die Reiterei muss nicht neu erfunden werden, aber den Dialog mit dem Pferd müssen wir vertiefen. Das Tier sollte mehr zu seinem Recht kommen und nicht übergangen werden. Oder anders gesagt: Die Navigation des Rades der Reiterei muss immer in Richtung Pferd führen. Das liegt mir sehr am Herzen“, sagt die Ausbilderin abschließend.
Text: Inga Dora Schwarzer Foto: www.Slawik.com