Eine bessere Selbstwahrnehmung, mehr Empathie, konfliktfreie Kommunikation und ein harmonisches Miteinander: Reiten wird leichter, wenn wir als Reiter unseren siebten Sinn nutzen. Was es damit auf sich hat, erklärt die Ausbilderin Kerstin Diacont
Sie reiten mit einer Freundin auf dem Reitplatz. Aus der Ferne hören Sie ein Motorengeräusch, obwohl kein Fahrzeug zu sehen ist, und atmen noch einmal bewusst aus, um Ihrem Pferd Sicherheit zu geben. Als ein Traktor um die Ecke fährt, erschreckt sich nicht nur Ihre Freundin, sondern auch deren Pferd. Sie war mit den Gedanken einfach noch vollkommen bei der Arbeit und hat den Traktor nicht bemerkt, sodass es zu diesem Überraschungsmoment für Mensch und Tier kam.
Generell helfen unsere Sinne dem Gehirn, Situationen zu bewerten. Wobei ein einzelner Sinn auch täuschen kann. Das Zusammenspiel der Sinne macht es möglich, Eindrücke zu verarbeiten und sie mit bereits gesammelten Erfahrungen zu kombinieren beziehungsweise in Kategorien einzuordnen. „Bedenkenswert ist dabei, dass jeder Mensch anders wahrnimmt – das bedeutet, aufgrund seiner persönlichen Disposition, den bisher gemachten Erfahrungen, seiner Talente oder Beeinträchtigungen anders selektiert, kombiniert und kategorisiert“, schreibt die Ausbilderin Kerstin Diacont in ihrem Buch „Der 7. Sinn des Reiters.“
Die eigene Wirklichkeit
Situationen und Gegebenheiten werden daher nie von zwei Personen genau gleich bewertet. Unsere Expertin ergänzt: „Jeder Mensch schafft seine ganz individuelle eigene Wirklichkeit, die von allen anderen verschieden ist, auch wenn zwei Menschen am gleichen Ort gleiche Dinge gemeinsam wahrgenommen haben.“ Das Gehirn, welches die Aufmerksamkeit und die Fokussierung steuert, wirkt als Filter, damit es nicht zu einer Reizüberflutung kommt. Wir sind Tag für Tag einer Flut von Reizen ausgesetzt, da müssen wir selektieren, was wirklich relevant ist. Auch die eigene körperliche und mentale Verfassung spielt dabei eine Rolle. Während Sie sich also auf Ihr Pferd eingestellt und dennoch auch auf Ihre Umwelt geachtet haben, war Ihre Freundin in Gedanken vertieft und hat den Traktor weder gehört noch rechtzeitig gesehen. „Als Reiter können wir ein spezielles Reitergehirn entwickeln, indem wir unser Gehirn darauf eichen, die fürs Reiten wichtigen Reize bevorzugt zu verarbeiten“, so Kerstin Diacont. Dazu müssen Sie lernen, Ihre Aufmerksamkeit zu lenken, zum Beispiel auf Ihre eigene Mitte und in das Becken als Bewegungsumwandler oder auf die Orientierung im Raum.
Die Spitze des Eisbergs
Sie sind eingeladen, ein weiteres Gedankenexperiment zu machen: Die fünf bekannten und körperlich greifbaren Sinne wie Sehen, Fühlen, Schmecken, Tasten und Hören sind die Spitze eines Eisberges, wenn es um das Thema Wahrnehmung geht. Doch was liegt unter der Wasseroberfläche verborgen? Überlegen Sie, was Sie im Kontakt oder Training mit Ihrem Pferd alles wahrnehmen. Das passiert oft unbewusst beziehungsweise unterschwellig. Sie bauen Vertrauen und eine Verbindung auf. Viele Mensch-Pferd-Paare haben irgendwann das Gefühl, sich in- und auswendig zu kennen. Als sechster Sinn wird oft der Gleichgewichtssinn bezeichnet. Er ist für jede Art von Bewegung und Orientierung essenziell. „Dazu kommt die Körperempfindung, die Wahrnehmung des eigenen Körpers – ein Aspekt der Tiefensensibilität“, sagt unsere Expertin. „Diese spielt insbesondere für den Reiter bei der Kommunikation mit dem Pferd eine wesentliche Rolle.“ Schließlich ist Körpersprache nur dann verständlich, wenn wir als Menschen wissen, was wir durch unseren Körper ausdrücken und so dem Pferd vermitteln. Als Reiter haben wir eine Verbindung zu unserem Pferd. Es ist wichtig, den eigenen Körper bewusst wahrzunehmen, in sich hineinzuspüren, den Spannungszustand der Muskeln und die Position von Gelenken und Körperteilen zu erkennen. Laut Kerstin Diacont macht diese Fähigkeit zur Bewusstheit einen großen Teil guten Reitens aus. Für die Ausbilderin gehört sie zu den wichtigsten Aspekten der sogenannten Tiefensensibilität.
Tiefer unter der Oberfläche
Der Eisberg geht tiefer, und dort befinden sich Sinne, deren Existenz häufig bezweifelt wird. Andrerseits gibt es aber Beispiele, welche annehmen lassen, dass wir tiefer unter die Oberfläche schauen sollten. „Sicher sind sie nicht bei jedem Menschen in gleichem Maße ausgeprägt, aber das sind die gewöhnlichen Sinne wie Sehen, Hören, Schmecken und Co. auch nicht. Denken Sie an einen Maler, der womöglich sichtbare Reize anders verarbeitet, oder einen Musiker, der Töne vielleicht als visuelles Muster wahrnimmt. Auch wir können unsere Sinne schulen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit gezielt auf bestimmte Sinnesreize lenken. Hätten Sie gedacht, dass es eine Art magnetischen Sinn gibt? Mit diesem nehmen einige Tiere das Erdmagnetfeld wahr. Fledermäuse beherrschen zum Beispiel die Echoortung. Haie oder Zitterrochen erkennen elektrische Felder. Kerstin Diacont hat die Wahrnehmung von Elektrizität auch bei ihrem blinden Wallach Bobby beobachten können: Er wusste immer genau, wo der Elektrozaun war und wann er abbremsen oder die Richtung ändern musste, wenn er zu dicht an den Zaun geriet. Fehlt ein Sinn, kann er durch andere Sinne kompensiert werden.
Wahrnehmen statt festhalten
Der Begriff siebter Sinn wird oft metaphorisch verwendet und bezieht sich auf eine intuitive oder über die normalen Sinne hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit. Das bedeutet eine erweiterte Fähigkeit, komplexe Informationen zu erfassen und intuitiv zu verarbeiten. Als Reiter stehen wir in ständigem Austausch mit unserem Pferd. Wir können lernen, subtil auf das Pferd einzugehen, dessen Bewegungen, Stimmungen und Körpersignale intuitiv zu verstehen. Es ist die tiefere, unbewusste Verbindung und Kommunikation zwischen Reiter und Pferd, die durch Erfahrung, Empathie und feinfühlige Wahrnehmung entsteht. Normalerweise steht bei uns das Sehen, aber auch das „Begreifen“ (im wahrsten Sinne des Wortes) sowie das „Festhalten“ im Vordergrund. Hände sind für uns ein wichtiges Werkzeug – beim Reiten rücken sie jedoch deutlich in die zweite oder dritte Reihe der wichtigen Werkzeuge. Die Wahrnehmung der Stellung unserer Gelenke und der Muskelspannung in verschiedenen Regionen unseres Körpers in Zusammenhang mit den Bewegungen des Pferdekörpers ist sehr viel wichtiger. Das heißt im Klartext: Weg von der Handorientierung und hin zu einer Beeinflussung des Pferdes mittels Ausrichtung und Intention. Eine nahezu unsichtbare Kommunikation zwischen Pferd und Reiter. „Durch angemessenes Training können wir unser Gehirn dazu bringen, mehr für Gleichgewicht und Propriozeption zuständige Neuronen zu aktivieren“, erklärt Kerstin Diacont. „Indem wir uns auf Bereiche konzentrieren, die beim Reiten wichtig sind, können wir Neuronen in unserem Gehirn umwidmen.“
Ein mächtiges Instrument
Wir Menschen sind generell stark visuell orientiert – wir verlassen uns eben gern auf unsere Augen. Kein Wunder, dass rund ein Drittel unseres Gehirns allein mit der Verarbeitung optischer Signale beschäftigt ist. Dabei treten anderen Signale oft in den Hintergrund. Das ist auch beim Reiten so. Eine sinnvolle Übung ist es daher, die Bewegungen des Pferdes öfter mal mit geschlossenen Augen zu spüren und dabei in Balance zu bleiben. Ein weiteres mächtiges Instrument ist die visuelle Vorstellungskraft. So können Sie lernen, komplexe Zusammenhänge in Form von Bildern schnell zugänglich zu machen. „Verbale Anweisungen eines Trainers für bestimmte Hilfenkombinationen wie zum Beispiel Seitengänge, Paraden oder Galoppwechsel dauern viel zu lange, um in einer Reitsituation schnell genug zum Gehirn des Reiters vorzudringen“, erklärt Kerstin Diacont und ergänzt: „Hilfenkürzel, bei denen der fortgeschrittene Reiter ein Bild von sich und seinem Pferd im Kopf entstehen lässt, welches die Bewegungsrichtung im Raum, die Ausrichtung sowie die Haltung von Pferd und Reiter darstellt, fassen ein ganzes Sammelsurium von Anweisungen als ‚Idee der Bewegung‘ schnell zusammen.“ Dieses Bild, also die Idee der gemeinsamen Bewegung/Haltung, steuert die Körpersprache des Reiters. Voraussetzung dafür ist, dass der Reiter in der Lage ist, seinen eigenen Körper wahrzunehmen und gezielt zu steuern sowie die Bewegungsqualität im System Reiter und Pferd zu beurteilen.
Neue Ideen
Im Reitalltag haben wir uns an einige Bilder gewöhnt, auch wenn wir diese nicht für gut befinden. Allein auf Social Media begegnen uns immer wieder Pferde mit der Nase (deutlich) hinter der Senkrechten, die unter anderem die Schulter überlasten, Reiter, die sich mit dem Oberkörper nach hinten lehnen oder gegen die Bewegung sitzen. Pferde, die mit den Vorderbeinen strampeln, aber nicht über den Rücken gehen. „Hier muss erst einmal das Bewusstsein geschaffen werden für eine optisch abweichende, funktionellere Haltung, womit wir wieder bei den Gewohnheiten wären, die schwer abzulegen sind“, gibt Kerstin Diacont zu bedenken. Wir müssen uns also mit den anatomischen Zusammenhängen im Pferde- und Reiterkörper auseinandersetzen. Dann kann sich durch das Ausprobieren von Haltungsvariationen und der Zuschaltung des Gefühls sowie der Sensibilität hinsichtlich der Bewegungsqualität eine neue Idee bilden und damit auch ein neues Bild von der erwünschten Bewegung. Haben wir eine neue, gesunde Idee von Bewegung im Kopf, können wir diese auch umsetzen.
Die Tiefensensibilität
Zum siebten Sinn des Reiters gehört auch die Tiefensensibilität, also die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Nach Kerstin Diacont ist dieser Sinn der wichtigste für einen Reiter, gleich gefolgt von Empathie und Absicht. „Er sorgt dafür, dass wir immer eine Vorstellung davon haben, wo im Raum sich gerade unser Körper, die Arme und die Beine befinden. Durch die Tiefensensibilität bekommen wir auch ein Gefühl für die Anspannung unserer Muskeln, die Stellung der Gelenke und die Bewegungen unseres gesamten Körpers“, erläutert die Expertin. Mangelt es an dieser Körperempfindung, können wir unter anderem nur schwer vorwärts gehen, da wir immer genau hinsehen müssten, ob unsere Füße den Boden berühren oder nicht. Beim Reiten müssen wir uns nicht nur selbst im Raum orientieren, sondern uns auch an die Bewegungen des Pferdes anpassen, um das Gleichgewicht zu halten. Als Reiter sind wir für das Pferd ein Fels in der Brandung (bestenfalls). Unsere Präsenz ist also wichtig, um Sicherheit zu vermitteln und das Training stressfrei zu gestalten. Über unsere eigene Körperenergie können wir das Pferd in Haltung bringen, es energetisch stabilisieren beziehungsweise die Energie kanalisieren.
Ein gesundes Selbstwertgefühl
Wahrnehmung und Kommunikation wird zudem von unserem Selbstbild bestimmt. Es hat Einfluss darauf, wie wir auftreten, auf andere wirken und auf unsere Pferde zugehen. Dabei kommt es nicht einfach nur darauf an, ein hohes Selbstwertgefühl vorzugeben, denn das kann die Kommunikation sogar eher erschweren, wenn es aufgesetzt ist. „In der Beziehung und der Kommunikation mit Pferden haben Menschen mit einem gesunden Selbstbewusstsein und einem realitätsnahen Selbstwertgefühl die besten Chancen“, betont Kerstin Diacont. Es ist von Vorteil, wenn Sie wissen, was Sie können und was nicht. Und wenn Sie bereit sind, dem Pferd zuzuhören und von ihm sowie von anderen Menschen zu lernen. „Viele Pferde sind gegenüber Menschen mit geringem Selbstwertgefühl nachsichtig und gutmütig, weil diese häufig nicht allzu viel von ihnen verlangen“, sagt unsere Expertin. Allerdings könnten so nur langsam Ausbildungsfortschritte erzielt werden. Finden Sie daher einen gesunden Mittelweg!
Text: Aline Müller Foto: www.Slawik.com