Text: Inga Dora Meyer    Foto: Countrypixel – stock.adobe.com

Pferd und Reiter haben oft mit ein und demselben Problem zu kämpfen: mangelndem Gleichgewicht. Unsere Experten Josef Kastner und Miriam Sherman erklären, was die Hauptursache dafür ist und was Mensch und Tier im Training wirklich hilft.

Das Gleichgewicht ist ein ständiger Begleiter im Alltag. Gehen, Laufen, Treppensteigen, sogar das Stehen am Boden oder Sitzen auf einem Stuhl würde nicht funktionieren, wenn wir nicht in Balance blieben. „Im Gleichgewicht zu bleiben ist Voraussetzung für Aufrichtung und diese wiederum Voraussetzung dafür, dass wir mit unseren Händen frei agieren können“, erklärt der österreichische Bewegungswissenschaftler Josef Kastner. In der Regel haben wir unseren Körper dabei gut im Griff, ansonsten würden wir ja ständig stürzen. Erprobte Muster helfen uns tagtäglich dabei, die Balance zu halten – auch wenn es mal knifflig wird.

„Beobachtet man Kinder, aber auch Erwachsene, wenn sie erfolgreich über ein Cavaletti balancieren“, sagt der Experte, „so verwenden sie zu allererst die Arme, dann das vorschwingende Bein (Spielbein) und zuletzt behelfen sie sich durch ein Abkippen des Oberkörpers. Beim Reiten jedoch ändert sich die Situation, denn der Pferderücken schwingt vor und zurück, nach links und rechts und dann auch noch auf und ab.“ Das Gleichgewicht auf einem sich bewegenden Objekt zu halten, ist ungleich schwieriger. Es setzt voraus, dass wir die Bewegung des Pferderückens in unsere Balance ständig mit einbeziehen. „Wir sprechen hier von einem antizipativen, also die Situation vorhersehenden dynamischen Gleichgewicht. Der Reiter muss beispielsweise erahnen, wie die ersten Tritte beim Übergang vom Galopp in den Trab sind“, erklärt Kastner.

Neue Bewegungen lernen

Zudem sollen die Arme, die ansonsten so erfolgreich für die Balance eingesetzt werden, bei dem, der im Sattel sitzt, ruhig am Körper anliegen. Auch die Beine haben deutlich weniger Freiheit. Das heißt: Die Balance auf dem Pferd muss der Mensch neu erlernen. „Auf motorische Erfahrungen aus dem Alltag kann man nur bedingt zugreifen. Es bedarf einer speziellen Schulung, zuallererst an der Longe, so lange, bis der Reiter in der Lage ist, die dynamische antizipierende Balance aus Lendenwirbelsäule und Hüfte herzustellen – und zwar in allen Gangarten: im Vollsitz, leichten Sitz/Entlastungssitz und beim Leichttraben. Dafür muss der Reiter spezielle Koordinationsmuster erlernen, die dafür notwendige Muskulatur schulen und Beweglichkeit erwerben“, erläutert Kastner.

Es ist außerdem wichtig, dass der Reiter lernt, die Bewegung des Rückens und die Rumpfbewegungen des Pferdes zu erfühlen. „Manche Reiter sind hier talentierter, manche benötigen mehr Information durch den Unterrichtenden. Ein guter Indikator ist, wenn der Reiter ohne visuelle Kontrolle in der Lage ist, aus der Rücken- und Rumpfbewegung zu spüren, welche Extremität des Pferdes am Boden ist bzw. welche vorschwingt“, so der Experte. Nur dann kann er in die Bewegungen des Pferdes eingehen und präzise mitschwingen. „Das ist eine der ersten und wichtigsten Maßnahmen beim Reitenlernen“, merkt der Bewegungswissenschaftler an.

Kann der Reiter dies nicht, sind reiterliche Fehler die Folge. Kommt er zum Beispiel ständig aus der seitlichen Balance, belastet er einmal zu viel links und dann wieder rechts, so fehlt ihm die Gewichtshilfe, die essenziell für das Reiten von Wendungen und höhere Lektionen wie Schulterherein oder Travers ist. Werden die Hände unruhig, bedeutet das ständige Irritationen, wenn nicht sogar schmerzliche Rucke im Pferdemaul. Stören unruhige Beine, die einmal vorne und einmal hinten liegen, einmal einwärts, einmal auswärts gedreht sind, werden widersprüchliche Informationen ans Pferd gesendet. „Wie soll das Pferd wissen, dass zum Beispiel das Zurücknehmen des Schenkels bedeutet, es soll in den Galopp starten, wenn der Schenkel im Schritt und Trab permanent vor- und zurückpendelt?“, fragt der Experte.

Kurzum: Der Reiter verwirrt den Vierbeiner, weil er sich im Sattel nicht genügend ausbalancieren kann. Das Pferd wird unsensibel und kann mit den Hilfen nichts anfangen. Das Ergebnis? „Es gibt keine Harmonie zwischen Reiter und Pferd. Die beiden werden keine Einheit. Zurück bleiben Frustration für den Reiter und Unwilligkeit und Unsensibilität bis zum gefährlichen Verhalten des Pferdes. Im schlimmsten Fall stürzt der Reiter vom Pferd“, so Kastner. Deshalb hat er das „KastnerMotion“-Konzept entwickelt (siehe Kasten Seite 41). Hierbei macht der Experte u. a. Videoaufnahmen in Zeitlupe, die sich der Reiter gemeinsam mit seinem Trainer ansieht. „Das, was der Reiter fühlt und was er tatsächlich macht, muss verifiziert werden – und zwar für den Reiter selbst“, sagt Kastner. Dann erfolgt die Sitzschulung mit verschiedenen Übungen am Boden und im Sattel.

…den gesamten Artikel zur Balance – inklusive Informationen zu dem Straightness-Training- und Kastner-Motion-Konzept – finden Sie in der Mai-Ausgabe.

BUCHTIPP

In dem Buch „Anatomie verstehen“ von Gillian Higgins werden die Bewegungsabläufe des Pferdes beim Reiten sichtbar gemacht. Welche Belastung tragen die Gelenke in der Trabverstärkung? Warum ist es für die Wirbelsäule so wichtig, dass das Pferd über den Rücken läuft? In dem Buch werden alle dabei entstehenden Veränderungen an Skelett und Muskulatur gezeigt. Die Muskeln und Knochen sind direkt auf das Pferd gemalt. Durch diese einzigartig anschauliche Darstellung werden die Bewegungen aus anatomischer Sicht verständlich und nachvollziehbar. Anschließend zeigt die erfahrene Physiotherapeutin, wie man die Muskulatur mit Übungen gezielt aufbaut und sein Pferd in einem optimalen Trainingszustand halten kann. Das Buch ist im Kosmos-Verlag erschienen und hier für 32 Euro erhältlich.

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