Ob sicher oder unsicher, introvertiert oder extrovertiert: Wer den Persönlichkeitstyp seines Pferdes kennt, dem fällt es leichter, es zu verstehen, in bestimmten Situationen richtig zu handeln und das Training entsprechend zu gestalten. Dabei kann das Modell von Jenny Wild und Peer Claßen helfen
Pferde sind Fluchttiere – doch die Persönlichkeit unserer Vierbeiner ist weitaus vielseitiger. Es reicht also nicht aus, sich mit der Psyche eines Beutetiers zu beschäftigen. „Ebenso, wie die Begriffe Jäger und Sammler auch nur annähernd der Vielfalt der menschlichen Natur gerecht werden, beschreibt der Stempel ‚Fluchttier‘ die Reichhaltigkeit der Pferdepsyche nur ungenügend“, schreiben Jenny Wild und Peer Claßen in ihrem Buch „Die Persönlichkeit meines Pferdes“. Die beiden Ausbilder gehen den unterschiedlichen Wesenszügen der Pferde auf den Grund und führen vier Grundpersönlichkeiten auf, anhand derer sie individuelle Trainingstipps geben. Doch bevor es an die Praxis geht, werfen wir einen Blick auf die ersten wichtigen Unterscheidungen.
Wertfrei analysieren
Eigentlich ist die erste Unterteilung eine dreifache und besteht aus den folgenden Fragen: Ist mein Pferd gerade sicher oder unsicher? Ist es entspannt oder angespannt? Kann es seinen Kopf einschalten oder nicht? Denkt es also mit oder nicht? Um ein echtes Gefühl für Pferde zu entwickeln und sie zu verstehen, raten unsere Experten, die eigenen Empfindungen als Vergleich heranzuziehen. Sie wissen sicherlich, wie es sich anfühlt, wenn Sie unsicher sind, wenn Sie nicht nachdenken können oder wenn Sie andererseits entspannt sind und sich sicher fühlen. Bleiben Sie wertfrei und vermeiden Sie Ausdrücke wie „faul“, „stur“, „dominant“, „fröhlich“, „verrückt“, „lieb“ und dergleichen mehr, die bereits emotional aufgeladen sind. „Wer fit darin ist, ein sicheres Pferd von einem unsicheren zu unterscheiden, wird bald merken, wie viel einfacher allein dieses Wissen die Arbeit mit den Pferden macht“, so Jenny Wild und Peer Claßen. „Es gibt jedoch noch eine andere Ebene, die für uns nicht weniger aufschlussreich ist, um das mentale und emotionale Naturell eines Pferdes zu ergründen.“
Bewegungsbedürfnis und Energie
Bei der zweiten großen Unterteilung geht es darum, herauszufinden, ob das Pferd introvertiert oder extrovertiert ist. Mit den beiden aus der Humanpsychologie bekannten Begriffen verknüpfen wir automatisch bestimmte Vorstellungen: Als Introvertierten sehen wir womöglich den stillen, schüchternen oder zurückhaltenden Vertreter, den lauten, hyperaktiven Klassenclown dagegen als extrovertierten Menschen. Bei Pferden sind die Energie und das Bewegungsbedürfnis ein wichtiger Indikator, doch der eigentliche Unterschied ist subtiler. „Im Grunde geht es darum, wie viel von dem, was in den Pferden vorgeht, seinen Weg nach draußen findet, und wie viel von dem, was um sie herum passiert, innen bei den Pferden ankommt“, erklären unsere Experten.
Jenny Wild und Peer Claßen halten noch eine dritte Unterscheidung, basierend auf der Energie der Pferde, für wichtig. Genauer gesagt, wie viel Bewegungsdrang, wie viel Power in den Pferden steckt. Ein hohes Maß an (Bewegungs-)Energie etwa könne die Extrovertiertheit extremer zum Vorschein bringen und auch Unsicherheit verstärken, da diese sich beim Fluchttier Pferd ohnehin gerne als Vorwärtsdrang äußere. Introvertierte Anteile würden durch viel Energie häufig übertüncht, was es schwerer mache, Anspannung von introvertiertem Festhalten zu unterscheiden. Dagegen blieben Pferde, die weniger Energie hätten, trotz Unsicherheit ruhiger und entspannter.
Die vier Grundpersönlichkeiten
Die zuvor aufgeführten Unterscheidungen kombinieren Jenny Wild und Peer Claßen zu vier Grundpersönlichkeiten der Pferde. „Die von uns angewandte Unterteilung bewährt sich in der täglichen Praxis immer wieder und ist dabei simpel und leicht zu merken“, so die Experten. Ein introvertiertes Pferd, das unsicher und angespannt ist und seinen Kopf nicht eingeschaltet hat, erkennen Sie unter anderem an einem über einen längeren Zeitraum hinweg stark zusammengepressten Maul. Diese Pferde können schlecht loslassen und halten vor allem innerlich fest. „Das alles führt dazu, dass diese Pferde selten lecken und kauen können, ein Zeichen, auf das man immer achten sollte, denn es ist ein recht verlässlicher Hinweis darauf, ob ein Pferd in der Lage ist nachzudenken oder nicht“, schreiben Jenny Wild und Peer Claßen. Sollten sie es doch einmal schaffen, sei es nach außen hin nicht immer offensichtlich. Die Augen bei diesen Pferden sind teilnahmslos, der Blick ist nach innen gerichtet oder weicht aus. Es kann den Menschen nicht angucken. „Solche Pferde vermitteln den Eindruck, als würden sie schlafen, was nicht der Fall ist. Das erschwert es uns einmal mehr zu identifizieren, ob einem Verhalten Sicherheit oder Unsicherheit zugrunde liegt“, betonen die Ausbilder. „Jedoch blinzeln die unsicheren, introvertierten Pferde fast nie.“ Ebenso wie der Blick sind die Ohren nach innen gerichtet, also halb nach hinten gestellt, als wollte das Pferd sagen: „Ich will nichts hören!“ Auch bewegen diese Pferde ihre Ohren kaum.
Individuelle Anzeichen erkennen
Nicht nur die Mimik, sondern auch weitere Merkmale wie die Körpersprache, das Bewegungsbild und das Verhalten geben Aufschluss über die Persönlichkeit des Pferdes. So bewegen extrovertierte Pferde, die unsicher und angespannt sind und den Kopf nicht eingeschaltet haben, Kopf und Hals nahezu pausenlos hin und her, um alles mitzubekommen. „In der Regel sind Kopf und Hals angespannt nach oben gereckt oder, je nachdem, wo sich ein gefährliches Objekt befindet, auch nach unten vorne gestreckt“, betonen Jenny Wild und Peer Claßen. Diese Pferde entscheiden sich permanent um, was sie gerade unbedingt wahrnehmen müssen. Wenn sie vor einer ganz konkreten Sache Angst haben, dann fixieren sie diese mit hohem Kopf und angespanntem Hals. Zudem können die Beine nicht still stehen. Solche Pferdetypen bewegen sie unkoordiniert in alle Richtungen und stolpern auch mal über ihre eigenen Füße. Schließlich lautet die erste Priorität eines Fluchttieres: „Beweg deine Beine! Irgendwie und irgendwo hin.“ Da dies nicht unbedingt bewusst geschieht, hüpfen die Vierbeiner gern mal instinktiv abrupt weg oder geben aus dem Stand Vollgas. Ihr Atem ist eher schnell und unregelmäßig. Er ist nicht flach wie bei den introvertierten Pferden, sondern sehr deutlich zu erkennen beziehungsweise zu hören. Auch das wirkt sich auf die Losgelassenheit aus. Wer die Persönlichkeit seines Pferdes allerdings kennt, kann das Training dementsprechend gestalten und angemessen reagieren.
Text: Aline Müller Foto: www.Slawik.com