Text & Foto: Peter Deicke
Kristin Klages und Peter Deicke sind Tiertrainer und lieben das Reisen. Ihr letztes Abenteuer ging samt Huhn, Muli und Esel durch den Nordosten von Estland. Das Ziel: Bären sehen
Wir sind wieder unterwegs. Wir: Da ist Nala, unsere erfahrene Maultierstute, die mit uns schon unter anderem in Polen, Schweden und Ungarn war. Festus, unser schwarzer Schlauberger, ein Muliwallach, den wir geschenkt bekamen. Wir haben ihn dieses Jahr eingefahren, und er ist ein hochmotivierter und friedlicher Arbeiter geworden. Fine, eine fünfjährige Eselstute, lieb und schmusig, wirklich ein Engel.
Dann Kristin, 26 Jahre alt, verrückt nach Tieren und auf Abenteuer. Und ich, Peter, ein 91-jähriger Mensch und genauso verrückt wie Kristin. Kristin und ich sind Tiertrainer für Tiere von der Maus bis zum Kamel. Ach ja, und dann ist da noch Bonna, unser schwedisches Blumenhuhn. Wir wollen die Zeit nutzen, um sie zu unterrichten. Sie lernt, Klavier zu spielen. Wohin? Wir wollen Bären in der Natur sehen. In Schweden haben wir tagelang gesucht, aber außer ein paar Bärenspuren nichts gesehen. Im Nordosten von Estland soll es noch viele Bären geben. Also los! 34 Grad, ob das gut geht? Ich glaube, unsere Tiere lachen uns aus. Was sind schon 34 Grad für Esel oder Mulis?
Zu Besuch bei Rajmund Wodkowski
Unsere erste größere Pause machen wir in Polen bei Rajmund Wodkowski, dem Vizeweltmeister der Fahrer, den wir schon 2018 mit unserer Eselkutsche besucht haben. Wir werden wie alte Freunde empfangen und bekommen einen gut eingezäunten Corral für die Nacht für unsere Tiere. Wir können beruhigt schlafen … glauben wir. Ein Schreckensschrei: „Eure Tiere sind weg!“ Tatsächlich, der Corral ist leer, das Tor weit offen. Höchstwahrscheinlich hat Festus, unser überschlauer Ausbrecherkönig, so lange gegen das Tor gebufft, bis sich der Riegel gelöst hat.
Um uns rum nichts als dichter polnischer Wald. In welche Richtung sind die Tiere gelaufen? Ist unsere Reise hier schon zu Ende? Unsere einzige Hoffnung: Alle unsere Tiere lernen als Erstes, auf unseren Ruf hin zu kommen. Aber wo sollen wir suchen? Wir rennen einfach los und schreien uns die Seele aus dem Hals. Nichts. Jetzt rennen wir schon über 40 Minuten schreiend durch den Wald. Wir können kaum noch rennen, und unser Rufen wird immer erbärmlicher. Wir kommen an einen schnurgeraden Waldweg. In weiter Ferne hören wir einen Schrei. War das nicht Nala? In die Richtung schauend sehen wir zwei sich bewegende Punkte. Sie kommen näher. Wir nehmen unsere letzte Kraft zusammen und schreien. Die beiden Punkte kommen näher, werden zu unseren Mulis, die im Galopp angesaust kommen. Aber wo ist unser Eselchen? Man lernt wieder, an Wunder zu glauben, denn kurze Zeit danach kommt unsere Eseldame, als wenn nichts gewesen wäre, im gemütlichen Schritt von der anderen Seite des Weges auf uns zu. Kaum jemand wird meine Gefühle in diesem Moment nachvollziehen können.
Wir bleiben ein paar Tage und genießen den See und die Gastfreundschaft. Eine Bezahlung für Unterkunft und Futter wird von unseren Gastgebern entrüstet abgelehnt.
Unterricht in Estland
Endlich sind wir im Norden Estlands angekommen. Im Internet haben wir den Reiterhof Arma in Kunda an der Ostsee gefunden. Obgleich unangemeldet, werden wir herzlichst empfangen. „Seid willkommen! Schön, dass ihr hier seid.“ Auf die Frage hin, was die Weide für die Tiere kosten würde: „Von Pferdeleuten, wie ihr es seid, nehmen wir kein Geld.“ Wir fühlen uns sofort wohl. Immer noch über 30 Grad, nur schnell rein in die Ostsee. Brrr, damit haben wir nicht gerechnet. Die Ostsee hier oben ist eiskalt. Schnell wieder raus!
Unsere Gastgeber sehen, was wir mit unseren Tieren machen, und schnell kommt die Frage: „Könnt ihr uns das beibringen?“ Vom neunjährigen Jungen über eine Distanzreiterin bis zum Chef haben wir schnell eine kleine Truppe hochmotivierter Schüler gefunden, und wie in allen Ländern, in denen wir waren, geben wir auch hier Unterricht. Aber wir wollten doch eigentlich Bären sehen! Wir erfahren: 70 Kilometer von hier haben drei Naturschützer eine kleine Beobachtungshütte gebaut. Sie locken die Bären dort mit Fischköpfen an, und angeblich soll man dort fast immer Bären begegnen. Also hin. Am vereinbarten Treffpunkt mitten im Urwald: nichts, nur ein Klohäuschen, sauber, getrennt für Weibchen und Männchen und mit Toilettenpapier. Und viele, viele Schmetterlinge! Allerdings ebenso viele Mücken. Wir warten. Pünktlich taucht aus dem Wald eine Frau auf, nimmt uns lächelnd in Empfang und bringt uns zu unserer Hütte. Zuerst noch ein Waldweg, dann nur noch ein Trampelpfad. Plötzlich tief eingedrückt in den moorigen Boden eine riesige Bärenspur mit Krallen, die uns gewaltige Achtung einflößt. Endlich eine kleine Hütte mit Sehschlitzen und Pritschen zum Schlafen und drinnen ein Plumpsklo. „So, tschüss, ihr beiden. Auf keinen Fall vor acht Uhr morgens rausgehen, und wenn ihr dann noch einen Bären seht, schnell wieder rein und mindestens 30 Minuten warten.“
Endlich Bären sehen
17 Uhr, wir sind allein, mitten im Urwald, für mindestens 15 Stunden. Es dämmert hier erst um 23 Uhr, also haben wir wohl noch Zeit. Als ich um 19.30 Uhr wieder nach draußen sehe: Ca. 20 Meter entfernt gucken zwei große schlanke Ohren aus dem Unterholz. Flüsternd rufe ich Kristin. Ein Elch? Der vermutete Elch hebt seinen Kopf und verwandelt sich in einen Bären. Unser erster Bär in der Freiheit, was für ein Gefühl. Der Bär hat ungewöhnlich lange Ohren und ist sehr schlank, vielleicht ein Weibchen. Jetzt stellt er sich auf die Hinterbeine, wittert zu uns rüber und verschwindet. Stunden später weckt mich Kristin, ein riesiger Bär mit Höcker im Nacken und kleinen runden Ohren, wie aus dem Bilderbuch, wohl ein stattliches Männchen. Dann kommt er immer näher, vor unserer Hütte ist ein Loch in der Erde, dort gräbt er. Wahrscheinlich sind auch da ein paar Fischköpfe versteckt. Wir hören ihn schmatzen. Er guckt uns direkt an. Hoffentlich ist er nicht zu hungrig, und hoffentlich hält die Hütte. Am nächsten Morgen messe ich die Entfernung von unserem Platz zu dem Loch. Es sind sieben Meter.
Wir sehen noch sechs Mal Bären in dieser Nacht und können nicht erkennen, ob es immer dieselben sind. Um 3.30 Uhr weckt mich Kristin wieder: ein Elch, zwar 50 Meter weit weg, aber dafür steht er ewig auf der gleichen Stelle und lässt sich gut bewundern.
Im Gauja-Nationalpark
Auf der Rückreise in Lettland im Gauja-Nationalpark haben wir unsere Tiere über Nacht sicher hinter einem Elektrozaun untergebracht … glauben wir. Morgens um sechs Uhr werden wir geweckt. „Ich habe eure Tiere auf meiner Überwachungskamera gesehen!“ Uns fährt ein Schreck in die Glieder. Unser Paddock ist zerstört, die Litze gerissen, manche Stangen umgeknickt. Auch hier haben wir wieder unseren Ausbrecherkönig Festus im Verdacht. Weit und breit nur Wildnis. Kristin fährt mit dem Mann, der uns geweckt hat, in die Nähe seines Hauses. Ich renne schreiend den Berg runter. Wieder einmal Glück im Unglück: Auf Kristins Rufen hin kommen unsere drei wieder ganz lieb angetrottet. Wir sind überglücklich, und die nächsten Nächte binden wir die Tiere innerhalb des Elektrozaunes an. Sicher ist sicher.
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