Bis in die Siebzigerjahre sorgte eine ungewöhnliche Jahrmarktsattraktion für Aufsehen in den USA: „Diving Horses“ und ihre „Reiterinnen“ stützten sich von einem Turm meterweit in die Tiefe in ein Wasserbecken. Quasi „Tauchende Pferde“.
Ende des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt 1894, sprang das erste Reiter-Pferd-Paar in die Tiefe eines Beckens. Der Erfinder dieser neuen Attraktion war William „Doc“ Carver, ein Büffeljäger, der durch seine Wild West Shows bekannt geworden war. Wie er auf die Idee des Turmspringens mit Pferd kam, ist nicht ganz klar. „Doc“ erzählt gerne Geschichten und so gibt es zwei mögliche Auslöser für die „Diving Horses“.
Tauchende Pferde – Unfall oder Heldentat?
Die erste Geschichte klingt nach einer Story für ein Drama: Während einer stürmischen Nacht ritt er mit seinem Pferd über eine Brücke, die unter dem Paar zusammenbrach. Nur durch den Sprung in den Fluss konnten sich Reiter und Pferd retten. Dieses Erlebnis soll ihn auf die Idee der „Tauchenden Pferde“ gebracht haben.
Die andere Geschichte ist etwas spektakulärer: „Doc“ soll mit seinem Pferd vor Indianern, die ihn verfolgten, geflüchtet sein. Bis zum Rand des Platte River in Nebraska sollen sie gekommen sein – eine weitere Flucht schien unmöglich. Also sprang das Paar in den Fluss und schwamm zum gegenüberliegenden Ufer. Welche Geschichte nun stimmt, wird man wohl nie erfahren. Fakt ist, dass daraus seine verrückte Idee der „Diving Horses“ entstand.
Tauchende Pferde: Eher Turmspringen mit Pferd
Der Name „Diving Horses“ ist eigentlich falsch. Denn bei der Attraktion geht es nicht um tauchende Pferde, sondern um Pferde, die mit samt ihrer Reiterin von einem Turm ins Wasser springen. 1894 fand die Prämiere in St. Louis, USA, statt. Für diese Show wurde ein bis zu zwölf Meter hoher Turm gebaut, von dem die Tiere in ein vier Meter tiefes Becken sprangen.
Die Pferde kamen mittels einer Rampe nach oben, sprangen herunter in das Becken und tauchten dort kurz unter. Danach schwammen nach oben und das Spektakel war beendet. Zuerst sprangen die Tiere alleine herunter, was das Publikum bereits begeisterte. Doch das reichte „Doc“ nicht. Er setzte fortan junge Mädchen auf den Rücken der Tiere.
Hier finden Sie ein Video dazu.
Diving Horses: Gefährliches Spektakel hoch zu Ross
Für die Mädchen war das alles andere als ungefährlich. Schließlich sprangen sie leicht bekleidet, ohne Kopf- oder anderweitigen Schutz, auf dem Rücken eines Pferdes einen Turm herunter. Und das in ein Wasserbecken. Die einzige Sicherheitsvorkehrung, die William Carver den Mädchen gab, war die Pflicht, den Kopf auf eine Halsseite des Pferdes zu halten, damit sie beim Sprung nicht vom Kopf des Tieres getroffen wurden. Über Verletzungen der Tiere oder Mädchen ist wenig bekannt, da damals nicht darüber berichtet wurde. Nur die Erblindung der wohl berühmtesten Springerin Sonora Webster wurde überliefert. Im Jahr 1931 stürzte Senora Webster, die zu diesem Zeitpunkt mittlerweile mit „Docs“ Sohn Allan Carver verheiratet war, vom Turm ins Wasser. Das Mädchen prallte mit geöffneten Augen auf die Wasseroberfläche. Bei diesem Sturz wurden ihre Netzhäute so sehr geschädigt, dass sie für immer blind blieb.
Senora Webster: Mutig oder waghalsig?
Senora Webster war ein pferdevernarrtes junges Mädchen, dass William Carvers Anzeige las. Er suchte eine „attraktive, junge Frau, die schwimmen und tauchen kann. Sollte Pferde lieben und Sehnsucht nach Reisen haben.“ Die damals 20-Jährige fühlte sich angesprochen und auch vom Geld angezogen. Sie sollte 50 Dollar die Woche bekommen – So viel Geld erhielt sie als Buchverkäuferin nicht. Also schloss sie sich der reisenden Gruppe an. In ihrer Autobiografie „A Girl and Five Brave Horses“, 1961 erschienen, schrieb sie über ihren ersten Turmsprung mit Pferd: „Ich hörte das Wasser um uns herum gurgeln und blubbern. Wir sanken tiefer, tiefer, tiefer. Ich spürte, wie seine Hufe den Grund erreichten.“ Das Pferd stieß sich ab, beide erreichten unverletzt die Wasseroberfläche. Von nun an absolvierte sie mehrere Sprünge vor Publikum – bis zu sechs Stunts am Tag.
Auch ihre kleine Schwester Arnette, 15 Jahre, gehörte der Gruppe an. Der „New York Times“ sagte Arnette Webster, es gebe „wirklich nicht viel zu tun, außer sich festzuhalten. Den Rest macht das Pferd.“
Tauchende Pferde fanden ein Ende
Überall, wo die Gruppe hinkam, „schnüffelten Tierschützer herum. Immer ersuchten sie herauszufinden, ob wir grausam zu den Pferden gewesen wären. Nie haben sie etwas entdeckt“, so Arnette Webster.
Nachdem „Doc“ gestorben war, beendete sein Sohn Albert „Al“ Carver das Wanderleben der „Great Carver Show“. Aber nicht etwa das Turmspringen. Dieses wurde von nun an auf dem Steel Pier in Atlantic City ausgetragen. Auf der großen Seebrücke des gut besuchten Freizeitparks sprangen Mädchen und Pferd von Türmen. Und auch die Outfits wechselten mit dem neuen Standort: Statt altmodischer Ganzkörperanzügen trugen die Mädchen nun gewagte Badeanzüge.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Shows, die es mittlerweile auch in Kanada gab, eingestellt. Nach Kriegsende gab es ein Comeback. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Tierschützer hatten zudem jahrelang versucht, das Spektakel zu beenden. In den 1970er Jahren war es so weit und die quälende Show wurde beendet.
1993 gab es ein kurzes Revival: Am Steel Pier in Atlantic City sprangen erneut Pferde ins Wasser – ohne Reiterinnen. Tierschützer beendeten diesen Auftritt schnell.
Tauchende Pferde – Verfilmung von Senora Websters Leben
Das Ehepaar Carver zog sich aus dem Geschäft zurück. Die erblindete Senora engagierte sich bis zu ihrem Tod bei einer Hilfsorganisation für Blinde – Disney verfilmte ihr Leben im Jahr 1991: „Wild Hearts Can’t Be Broke“.
Text: Nora Dickmann Foto: Getty images