Ein ausbalancierter Sitz und gezieltes An- und Abspannen verschiedenster Muskeln sind die Basis, um fein einwirken zu können. Wer vor lauter Konzentration die Zähne zu stark zusammenbeißt oder Kiefer-Fehlstellungen hat, kann sich noch so viel Mühe geben und sitzt dennoch schief oder verspannt auf dem Pferd. Spezielle Zahnschienen sollen hier helfen.

 

Auf den letzten Metern vor dem Sprung nimmt Shrimps den Kopf hoch, visiert das Hindernis an und zieht an. Laura ist angespannt, will alles richtig machen, doch ihre Hände wandern unbewusst weiter nach oben, sie zieht die Schultern hoch. Ihre Hilfen kommen nicht mehr so gut an bei Shrimps. Der irische Wallach, der eigentlich Redinagh It‘s The Law heißt, kommt zu dicht an den Sprung, nimmt mit der Vorhand die oberste Stange mit. Lange Zeit schlägt sich Laura Goetsch mit genau diesem Problem herum, doch ihr Körper reagiert nicht so, wie sie es sich vornimmt. Die überraschende Lösung für ihr Problem findet die Spring- und Vielseitigkeitsreiterin, als sie sich Fotos von sich ansieht. „Auf Fotos habe ich erkannt, wie ich meine Lippen und meinen Kiefer aufeinanderpresse, sei es aus Konzentration oder Anspannung. Das führte auch irgendwie zu hochgezogenen Schultern und teilweise auch Händen – gerade, wenn mein Pferd vor einem Sprung den Kopf hochnimmt und loszieht“, beschreibt die 27-Jährige, die seit vier Jahren im Sattel von Shrimps sitzt und mit ihm in Vielseitigkeiten bis CCI*-Intro startet sowie in Springen Kl. A unterwegs ist. „Durch die hochgezogenen Hände kommt es natürlich dazu, dass wir Sprünge etwas unterlaufen – ich bekomme ihn so nicht pariert und habe eigentlich keine Einwirkung mehr.“

Wenn der Kiefer schief steht

Kaum ein Kiefer hat von Natur aus die ideale Stellung. Eine starke Fehlstellung wird in der Regel vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit einer Zahnspange korrigiert, leichtere Abweichungen nicht unbedingt, da sie manchmal nicht einmal auffallen. „Wenn z. B. Weisheitszähne wachsen, können Zahnreihen in Gänze verschoben werden, die ,Okklusion‘ (der Biss) kann sich im Millimeterbereich, oft gar nicht sichtbar, verändern, und so kann die harmonische Okklusion gestört werden“, erklärt Zahnärztin Dr. Nina Karbe-Voigt. „Man beißt falsch, das ,System‘ registriert es und zeigt die Probleme an. Oft durch nächtliches Knirschen oder unbemerktes Pressen. Auch kieferorthopädische Behandlungen, zu hohe Füllungen oder Kronen und Brücken können das bewirken. Die Zähne stehen zwar hinterher schön gerade, aber die Funktion ist manchmal deutlich gestört und so ergeben sich dauerhaft Probleme.“ Anfängliches Knacken im Kiefergelenk, Kopfschmerzen, verspannte Kiefermuskeln sind erste Anzeichen. „Das ist nur der Anfang. Beckenschiefstand, Bein­längendifferenz, Skoliosen, Migräne, Nacken-Rückenprobleme, Blockaden in den Iliosakralgelenken sind ernsthafte Folgen von Kiefergelenk- und Bisslage-Problemen.“

Gerade im Sport, wo der Körper Höchstleistung bringen muss, kann das problematisch werden. Verschiedene Sportzahnschienen setzen hier an. Eine davon ist die Performance-Schiene, die Dr. Nina Karbe-Voigt wie auch Zahnärztin Dr. -medic stom. (RO) Diana Svoboda MSc, MSc verwenden. „Speziell während des Reitens wird die Sportzahnschiene eingesetzt, um die Bissposition des Unterkiefers zu Oberkiefer zu optimieren und somit Fehlstellungen auszugleichen. Liegt eine Funktionsstörung des gesamten Kausystems vor, so wird diese auch als Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), bezeichnet. Der falsche Biss führt zu einer Kieferfehlstellung. Sie entsteht, wenn der Unterkiefer nicht optimal auf den Oberkiefer kommt. In diesem Fall versucht die Nacken- und Rückenmuskulatur die Kaumuskulatur auszugleichen, was zu einer fehlerhaften Haltung führen kann.“

All diese Versuche des Körpers, das Kieferproblem auszugleichen, führt zu einer eingeschränkten Beweglichkeit und zu den von Dr. Nina Karbe-Voigt genannten Problemen. Die Koordinationsfähigkeit leidet, man hat weniger Ausdauer und Kraft. Das Risiko, sich zu verletzen, steigt. Zumal die Anspannung des Kiefers zu einem weiteren Problem führt: „Beißen Reiter sehr stark ihren Ober- und Unterkiefer zusammen, übt dies extremen Druck aus und führt zum Ausschütten bestimmter Stresshormone wie etwa Cortisol.“

Auf dem Pferd sitzt man mit solchen Einschränkungen nicht mehr gerade und ausbalanciert. Schiefe Schultern, schiefe und zu hoch getragene Hände wie auch ein Einknicken in der Hüfte sind häufig die Folge. Das macht sich nicht nur wie bei Laura beim Springen bemerkbar. Eine feine und exakte Hilfengebung wird unmöglich. Der Reiter belastet z. B. durch die Fehlstellung beide Gesäßknochen nicht richtig, kann mit den Gewichtshilfen nicht korrekt einwirken. Das Pferd passt sich an, läuft schief, reagiert nicht so gut auf die treibenden Hilfen, da der Reiter die Schenkelhilfen nicht eindeutig geben kann. In Wendungen kommt der Reiter durch den unausbalancierten Sitz möglicherweise hinter die Bewegung des Pferdes, was er mit den Beinen versucht auszugleichen. Ein Bein klemmt, das andere rutscht unkontrolliert nach vorne weg. Das Pferd wird nicht mehr vom Sitz eingerahmt. Es läuft über die äußere Schulter weg.

Auch das Aussitzen leidet unter einem schiefen, verspannten Sitz. Ein harmonisches Mitschwingen ist schwierig. Der Reiter verbraucht viel Kraft, da sein Körper immer wieder da­ran arbeitet, das Defizit der Kieferstellung auszugleichen. Er kommt nicht zur Losgelassenheit, sodass auch das Pferd nicht zur Losgelassenheit findet. Ein Teufelskreislauf.

Maßarbeit im Labor

Laura hat sich von Dr. Diana Svoboda eine Sportzahnschiene anfertigen lassen. Hierbei handelt es sich um eine individuell angepasste Aufbissschiene im Gegensatz zu einer normalen Beißschiene, die in erster Linie die Zähne schützt. Die Sportzahnschiene sieht nicht aus wie eine Zahnschiene, die etwa Eishockeyspieler oder Boxer als Mundschutz tragen, und die die untere wie auch die obere Zahnreihe abdeckt. Eine Aufbissschiene wird über die Zähne des Unterkiefers gelegt. „Die Schiene bringt den Unterkiefer in eine optimierte Position, sodass Beweglichkeit, Koordination und die Leistung im Allgemeinen gesteigert werden kön

nen. Verhindert man die Verspannungen der Kaumus­kulatur, entlasten sich ganz automatisch auch alle weiteren Muskelgruppen entlang der Hals- und Nackenmuskulatur bis hin zum unteren Rücken. Die Körperstatik bleibt im Gleichgewicht. Wichtige Faktoren wie u. a. die Koordination werden bei Reitern optimiert. Das Verletzungsrisiko sinkt und die ideale Haltung im Sattel wird optimiert“, erklärt Dr. Diana Svoboda.

Und das wirkt sich auch aufs Pferd aus! „Das Pferd bekommt auf Dauer exaktere Impulse des Reiters, seitengleiche Informationen. Auch der Körper des Pferdes profitiert von der Performance-Schiene des Reiters, da auch das Pferd gleichmäßiger im Körper arbeiten kann“, berichtet Dr. Nina Karbe-Voigt, die selbst ein Pferd hat und reitet.

Damit die Schiene diese Wirkung erzielt, muss sie gut sitzen. „Nach dem Beratungsgespräch und der intraoralen sowie extraoralen Befundaufnahme, werden Abdrücke genommen, um Planungsmodelle herzustellen“, beschreibt Dr. Diana Svoboda den Ablauf. „In einem zweiten Termin wird die optimale Position des Unterkiefers zum Oberkiefer festgelegt. Das kann manuell gemacht werden oder mithilfe spezieller Softwares, die zusätzlich die Neigung der Kiefergelenkbahnen messen können. Aufgrund dieser Informationen, wird dann die Schiene in zahntechnischen Fachlabors hergestellt.“

Je nach Analyseaufwand und Materialkosten zahlt man für die Schiene inklusive Analyse zwischen 1200 und 1500 Euro. Reiter, die sich für eine Sportzahnschiene interessieren, sollten sich an einen Zahnarzt wenden, der mit den Abläufen zur Anfertigung einer Sportzahnschiene vertraut ist und im optimalen Fall über eine Ausbildung im Bereich der Sportzahnmedizin verfügt.

Länger leistungsfähig

Dr. Svoboda erzählt, dass prominente Sportler über bessere Leistung mit der Schiene berichten. „Sportler aus verschiedenen Bereichen zeigten bereits, dass sie durch die Sportzahnschiene eine Verbesserung von Schnelligkeit, Gleichgewicht sowie Ausdauer, Maximalkraft und Regeneration bemerkt haben. Außerdem kann sie in vielen verschiedenen Sportarten für mehr Sicherheit und Stabilität im ganzen Körper sorgen.“ Profisportler profitieren sehr von der Sportzahnmedizin, ist sich auch Dr. Nina Karbe-Voigt sicher. „Das Thema ist so vielschichtig und endlich auch in Deutschland richtig angekommen. Denn die Sportzahnmedizin ist z. B. in den USA seit Jahrzehnten gang und gäbe.“ Die Zahnärztin ist modern ausgestattet, fährt sogar in die Ställe zu den Reitern, um vor Ort mit mobilem Scanner und Messsystem die Vermessungen und Scans der Kiefer durchzuführen.

In Studien hat man he­rausgefunden, dass Patienten, die an einer craniomandibulären Dysfunktion leiden, mit einer Aufbissschiene länger eine sportliche Übung durchführen können. Wie sich eine Kieferfehlstellung auswirkt, zeigte sich in dieser Studie bei der Kontrollgruppe: Diese Teilnehmer hatten eine normale Kieferstellung, mit einer Aufbissschiene wurde bei ihnen eine Fehlstellung provoziert. Und tatsächlich verschlechterte sich ihre sportliche Leistung. In dieser Studie hatte die Schiene unterschiedlich großen Einfluss auf die Körperhaltung der Person. Wissenschaftler konnten in weiteren Untersuchungen jedoch feststellen, dass verschiedene Positionen des Unterkiefers die gesamte Körperhaltung beeinflussen: So lässt sich bei einer bestimmten Kieferstellung z. B. die Kopf- und Nackenmuskulatur weiter dehnen und die Auswirkungen gehen so weit, dass die Kieferstellung auch beeinflusst, wie stark man mit dem Fuß auf den Boden drücken kann. Umgekehrt funktioniert das Zusammenspiel der Muskelketten allerdings auch: Die Körperhaltung wirkt sich auch auf die Unterkieferposition aus. So zeigt sich, dass bei Sportlern aufgrund der körperlichen Belastung und Anstrengung oft auch cranio­mandibuläre Dysbalancen auftreten. Forschungen zufolge sind Profi- und Hochleistungssportler deutlich häufiger davon betroffen als Nichtathleten.

Eines notierten die Wissenschaftler aber auch: Der Körper braucht eine Zeit, bis er sich an eine Sportzahnschiene gewöhnt hat. Direkt nach dem Einsetzen wurde die Haltung bei Studienteilnehmern zunächst instabiler, erst nach sechswöchigem, permanentem Tragen zeigte sich eine verbesserte Stabilität.

Erste Erfolge

Laura hat sich schnell an das Tragen der Schiene gewöhnt. „Natürlich spürt man, dass man etwas im Mund hat. Vergleichbar mit einer losen Zahnspange, auch wenn man mit der Schiene wesentlich besser sprechen kann. Ist die Schiene einmal eingesetzt, gewöhnt man sich in kurzer Zeit daran“, erzählt die Reiterin, die auch gleich Veränderungen gespürt hat. „Ich bleibe ruhiger und entspannter, da ich gar nicht mehr die Möglichkeit habe, so mit Druck zuzubeißen!“

Je nachdem wie oft die Schiene getragen wird oder wie stark die Belastung auf die Schiene ist, sollte man sie alle sechs bis zwölf Monate erneuern. Da die Daten abgespeichert sind, ist ein neues Vermessen nicht nötig. „Regelmäßige Kontrolltermine sind nur notwendig, wenn Veränderungen auftreten, wie z. B. Sportverletzungen, die mit Physiotherapie oder Osteopathie begleitet werden. Dann muss diese Behandlung im Bezug auf die Sportzahnschiene berücksichtigt werden“, erklärt Dr. Svoboda. Sie rät Reitern, die Schiene immer beim Reiten sowie bei anderen sportlichen Aktivitäten zu tragen. Laura gesteht, dass sie die Schiene beim Training auch schonmal vergessen hat. „Auf Turnieren trage ich sie aber immer – ich glaube, das wird jetzt sowas wie mein neues Glücksritual.“ Dass sie nun mit der Schiene weniger die Zähne zusammenbeißen kann, zeigt erste Erfolge. In dieser Saison konnte sie schon einige sehr schöne Nullrunden drehen.

 

Text: Kerstin Wackermann, Bild: slawik.com

#doitride-Newsletter   Sei dabei und unterstütze die #doitride-Kampagne! Mit unserem Newsletter verpasst Du keine Neuigkeiten rund um #doitride. Jetzt aktivieren!