„Nach einem Sturz muss der Reiter sofort wieder aufsitzen, damit die Angst nicht bleibt“ – so die Theorie. Aber muss ich wirklich sofort wieder rauf aufs Pferd, oder kann ich auch anders mein Selbstvertrauen stärken? Unsere Experten, die Mental-Coaches Antje Heimsoeth und Andreas Mamerow, geben Ihnen Tipps, wie Sie Ihre Angst in den Griff bekommen
Text: Jessica Classen; Fotos: IMAGO/ Manfred Grebler (2), IMAGO/ blickwinkel (1)

Was immer du tun kannst oder erträumst zu können, beginne es“, sagte Goethe einmal. Und das am besten sofort und nicht erst in ein paar Tagen. Genauso verhält es sich auch mit der Angstbewältigung. Gehören auch Sie zu denjenigen, die ein Pferd haben, aber trotzdem Angst, sich in den Sattel zu setzen? Warum das so ist, kann viele Ursachen haben: Sie sind vom Pferd gefallen und seitdem traumatisiert, die ständige Angst, es könnte etwas passieren, sitzt Ihnen von vorneherein im Nacken, oder aber Sie waren bei einem Unfall dabei, Angstfrei reiten und obwohl Ihnen nichts passiert ist, hat die Angst sich eingeschlichen. Damit Sie wieder Freude am Reiten bekommen und lernen, neue Herausforderungen zu meistern, müssen Sie aktiv dagegen vorgehen.


Hand aufs Herz

„Angst ist immer ein subjektiver Bewertungsprozess und Interpretationssache“, so Mental-Coach Antje Heimsoeth. „Es gibt viele verschiedene Arten von Angst, die alle unterschiedlicher Natur sind, und dementsprechend handeln die betroffenen Personen auch anders.“ Wenn Kinder und Jugendliche beispielsweise von Ponys auf Großpferde umsteigen, werden sie oft unsicher. Kinder gehen generell unbeschwerter mit neuen Situationen um. Junge Menschen im Teenageralter beginnen dagegen schon, über Konsequenzen ihres Handeln und Tuns nachzudenken. Das kann unter Umständen das Selbstvertrauen erschüttern, weil es zu diesem Zeitpunkt ohnehin recht niedrig ist. Fällt dann auch noch der vertraute Umgang mit dem Pony weg, kann das für einen Teenager schnell problematisch werden. „Angst geht häufig einher mit mangelndem Selbstbewusstsein. Deshalb muss das Ziel des Reiters sein, dieses zu stärken“, führt Mental-Coach Andreas Mamerow weiter aus. „Grundsätzlich unterscheidet man zwischen ‚Angst‘ und ‚Ängstlichkeit‘. Letzteres ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die zum Teil angeboren ist und sich im Laufe der Kindheit und Pubertät entwickelt. Mit Abschluss der Pubertät gilt die Persönlichkeit des Menschen als ausgereift und damit schwer veränderbar. Ein tendenziell ängstlicher Reiter wird also immer ängstlich bleiben, auch wenn das nicht heißt, dass er nicht lernen kann, damit umzugehen. ‚Angst‘ ist dagegen situationsbedingt und von Reiter zu Reiter natürlich sehr individuell.“ Diese Angst lässt sich allerdings gut bearbeiten, indem sich der Reiter zunächst einmal bewusst macht, in welchen Situationen er eigentlich Angst empfindet. „Um die eigene Angst richtig beurteilen zu können und daraus entsprechende Angstbewältigungsstrategien zu entwickeln, ist es notwendig, sich bewusst zu machen, dass Angst letztendlich die subjektive Interpretation einer Situation ist“, so Andreas Mamerow, und Antje Heimsoeth führt weiter aus: „Bei der Angstbewältigung kann ganz allgemein zwischen personen- und umweltorientierten Bewältigungsstrategien unterschieden werden“, sagt sie. „Umweltorientiert reagieren bedeutet, eine Angst induzierende Situation durch Änderung der äußeren Bedingung zu bewältigen.“ Beispielsweise, indem der Reiter seine Ausrüstung verändert. Er könnte sich einen Westernsattel statt des vorherigen englischen Sattels holen, weil er das Gefühl hat, dass er dadurch mehr Sicherheit auf dem Pferderücken hat. „Personenorientiert vorzugehen heißt, dass nicht die äußeren Bedingungen verändert werden, sondern der Reiter selbst aktiv sein inneres Erleben beeinflusst und damit seine Angst reduziert“, führt Antje Heimsoeth weiter aus. Soll heißen, dass der Reiter die Fähigkeit erlernen muss, Angst induzierende Symptome rechtzeitig zu erkennen, um dann dagegen vorgehen zu können. „Das hört sich einfach an, ist aber in der Realität dann doch sehr schwierig, weil der Mensch dazu tendiert, Probleme zu verdrängen“, ergänzt Andreas Mamerow. „Probleme erscheinen ihm als eine Bedrohung, die er besser von vorneherein direkt vermeidet.“
Das Pferd ist dein Spiegel

Angst geht immer Hand in Hand mit körperlichen Reaktionen, selbst, wenn es nicht immer offensichtlich ist, weiß auch Andreas Mamerow: „Das Pferd wird diese Reaktionen körperlich fühlen und somit unsere Gedanken lesen. Ein Pferd, welches spürt, dass sein Reiter Angst empfindet, wird darauf entsprechend reagieren. So gesehen spiegelt das Pferd die Angst des Reiters durch sein Verhalten wider.“ Wer also Angst hat, überträgt dies auf sein Pferd. „Und damit sind Probleme vorprogrammiert“, warnt Antje Heimsoeth. „Denn das Pferd ist ein Fluchttier. Es reagiert auf unsere körperlichen An- und Verspannungen und Verkrampfungen, die durch die Angst ausgelöst werden. Der Mensch ist im Flucht- oder Kampfmodus, und so ist es das Tier dann auch.“ Pferde sind sensibel und reagieren sehr stark auf die Atmung des Menschen, die nicht nur die Psyche, sondern auch den Gesundheitszustand der Person beeinflusst. Im Ruhezustand ist das Zwerchfell nach oben gewölbt; beim Atmen entsteht eine mechanische Wechselwirkung, welche die Durchblutung, die Sauerstoffversorgung und die Verdauung fördert. Auch verändert die Atmung die gesamte Körperhaltung: Ein aufrecht gehender und selbstsicherer Mensch atmet gleichmäßiger als ein unsicherer. „Durch Stress und Angst ist die natürliche Atembewegung bei vielen Menschen gestört. Wer Angst hat, schnappt nach Luft und ‚erstarrt‘ förmlich“, erklärt Antje Heimsoeth.

Schrittweise Angstbewältigung

„Zunächst muss die Angstsituation genau identifiziert und definiert werden“, erklärt Andreas Mamerow. „Fragen wie: ,Wann entstand die Angst? Was ist genau passiert? Wovor besteht die Angst genau? Kann es noch andere Ursachen geben, welche die Angst verstärken?‘ müssen geklärt werden.“ Ziel ist es, das Erscheinungsbild der eigenen Angst zu konkretisieren. „Im nächsten Schritt geht es um die realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten“, führt er weiter aus. „Dabei wird das Selbstvertrauen gestärkt. Der folgende, zentrale Punkt ist nun, die Angstsituation zu objektivieren und einen Handlungsplan zu entwickeln.“ Mit diesem Plan steigert der Reiter sein Selbstvertrauen und wird damit handlungsfähig – er reagiert nicht länger, sondern agiert und wird aktiv. Wichtig ist es dennoch, dass Sie in Angstsituationen entspannt bleiben. „Das ist leichter gesagt als getan“, so Andreas Mamerow. „Aber mit ein bisschen Übung kann man Entspannungstechniken lernen, die auch in Gefahrensituationen das eigene Erregungsniveau reduzieren.“ Dies ist eine Grundvoraussetzung, um handlungsfähig und selbstbewusst zu bleiben. Anschließend kann der Reiter mit Hilfe von Visualisierungstechniken trainieren, wie er die konkrete Angstsituation bewältigt. „Ich empfehle verschiedene Techniken zur Angstbewältigung“, erklärt Antje Heimsoeth. „Zum einen gibt es den Gedankenstopp. Sobald negatives Denken oder falsche Gedanken aufkommen, holen Sie ein auf Pappe geklebtes Stoppschild aus Ihrer Hosentasche, schauen es an und sagen klar und deutlich ‚Stopp!‘ Dabei achten Sie darauf, ruhig und tief zu atmen.“ Stellen Sie sich dabei vor, wie Ihre Gedanken waggonweise als vorbeifahrender Zug in einen Tunnel fahren und beladen Sie jeden Waggon mit negativen Gedanken. Und wenn Sie die Rücklichter des Zuges im Tunnel verschwinden sehen, passiert dasselbe mit Ihren Gedanken: Sie sind weg. „Zum anderen gibt es verschiedene Atemtechniken, Entspannung kann mit Musik hergestellt werden, und auch ich empfehle die Visualisierungsübung“, führt die Expertin weiter aus. „Finden Sie dazu ein inneres Ruhebild, mit dem Sie sich blitzschnell in Angst-Situationen auf ein niedriges Erregungsniveau ‚herunterholen‘ können.“ Wichtig dabei sind die emotionalen Erinnerungen und die kinästhetischen Empfindungen: Bringen Sie sich mental an einen Ort der Ruhe, an dem Sie Farben sehen, und Geräusche und Gerüche wahrnehmen. Bekommen Sie so ein Gefühl der Geborgenheit, Entspannung und Freiheit. „Nichtsdestotrotz sollte bei einem schweren Trauma dann doch ein Therapeut aufgesucht werden“, so Antje Heimsoeth. „Und dies dann auch möglichst zeitnah nach dem Sturz.“

Angstfreies Reiten

„Angst ist nicht real“, sagt Andreas Mamerow. „Der einzige Ort, an dem Angst existieren kann, befindet sich in unserer Vorstellung von der Zukunft: Sie ist ein Produkt unserer Fantasie und lässt uns Dinge fürchten, die in der Gegenwart nicht existieren und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nie existieren werden.“ Das solle nicht heißen, dass es keine reale Gefahr gebe: Reiten ist und bleibt ein gefährlicher Sport. Aber ob wir Angst dabei empfinden, sei unsere eigene Entscheidung. „Angst führt dazu, dass wir uns – im Gegensatz zu unserem Pferd – nicht im ‚Hier und Jetzt‘ befinden“, erklärt der Experte weiter. „Unsere Gedanken beschäftigen sich in solchen Fällen mit der Zukunft. Dabei brauchen wir vor allem in Gefahrensituationen all unsere Aufmerksamkeit für unser aktuelles Handeln.“ Nur wer von seinen Ängsten weiß, kann sie beseitigen. „Ängste haben ihr eigenes Gedächtnis“, so Antje Heimsoeth. „Dieses lässt sich nur selten durch kluge Worte löschen. Neue emotionale Erfahrungen, die eine ‚Neuverarbeitung‘ der Gehirnzellen bewirken, sind nötig, um das Vertrauen des Reiters langsam wieder aufzubauen.“ Auf verschiedene Art und Weisen können Blockaden dann sogar in persönliche Stärken umgewandelt werden. Lassen Sie sich dabei helfen: Manchmal reicht es schon, wenn eine andere Person Sie noch mal an die Longe nimmt oder neben Ihrem Pferd hergeht, während Sie auf dem Platz reiten oder auf dem Rücken Ihres Pferdes den Feldweg am Stall entlanggehen. Das schafft Vertrauen und gibt Ihnen die Sicherheit, dass Sie mit Ihren Ängsten nicht alleine sind, sondern sich immer auf eine Bezugsperson verlassen können. Vielleicht hilft es Ihnen auch schon, wenn Sie sich auf ein anderes, ruhigeres Pferd setzen. Aber auch Ihr eigenes Pferd kann Ihnen bei der Angstbewältigung helfen: Verbringen Sie bewusst Zeit mit ihm – so lernen sie sich besser kennen und können auf diese Art nicht nur Ihr Selbstbewusstsein im Umgang stärken, sondern auch das gegenseitige Vertrauen vertiefen. Bei beiden Mental-Coaches müssen die Teilnehmer der Seminare und Workshops keine bestimmten Erfahrungen mitbringen; auch werden keine Pferde beim Training gebraucht, weil sich hier diesmal alles um den Reiter dreht. Erst im Nachhinein kommt das Pferd hinzu, denn die eigentlich ursprüngliche Angst liegt beim Reiter. Entscheidend ist letztendlich, dass aus Ihnen beiden wieder ein Team wird, das gemeinsam ohne Wenn und Aber, dafür mit viel Vertrauen, alle Gefahren meistert.

 

 

 

 

 

 

 

 

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