Den Bullen habe ich glatt übersehen. Dabei hat er meine Mitreiter wohl sehr beeindruckt, konnten sie doch bis ins Detail seinen großen massigen Kopf beschreiben: Verständlich ist ihre Unruhe schon, schließlich sind wir mitten durch eine Rinderherde geritten, ohne trennenden Zaun zwischen ihnen und unseren Pferden. Da stechen die spitzen Hörner plötzlich deutlicher ins Auge, als es gewöhnlich der Fall wäre. Aber wie ich waren sie zu keinem Zeitpunkt ernsthaft beunruhigt und haben unserem Führer für diesen, den zweiten Reittag voll vertraut. Barbarangelo ist Tierarzt und der Bruder von Daniele Licheri, dem Veranstalter unseres viertägigen Wanderritts durch den Westteil der zu Italien gehörenden Insel Sardinien.
Gastfreundschaft Die Koppel ist von einer etwa einen Meter hohen Steinmauer eingerahmt. Von Zaun möchte man gar nicht sprechen. Diese typisch sardische Art der Begrenzung sollten wir in den nächsten Tagen immer wieder erleben. Weil Daniele, dessen Familie zu den alteingesessenen und angesehenen Familien zählt, sehr gute Kontakte zu seinen Nachbarn hat, blieb uns kein Tor verschlossen. Und so sahen wir Rinder, Schafe, Esel, Ziegen, Pferde und begegneten unglaublich herzlichen, aufgeschlossenen Menschen. Welche Qualität die sardische Gastfreundschaft hat, erlebten wir aber gleich am ersten Abend. Die Anlage Mandra Edera ist kein Hotel im üblichen Sinn. Als Gast hat man eher das Gefühl, in die Familie mit aufgenommen zu werden. Denn das Essen, typisch sardische und italienische Küche, wird in einem großen Raum serviert, der im Winter der Familie Licheri als Wohnzimmer dient. Spätabends setzt sich noch Daniele zu uns, und wir besprechen die Route der nächsten vier Tage, die uns über das Bergmassiv Monte Ferru bis auf knapp 1.200 Meter Höhe und von dort hin- unter ans Meer an den acht Kilometer langen Sandstrand von Is Arenas führen wird.
Der nächste Morgen startet dann gleich mit einer Überraschung: Ich bin früh aufgestanden, um die Pferde in den ersten Sonnenstrahlen auf der Weide zu fotografieren. Auf dem Weg dorthin schreckt mich Huf- getrappel auf. Plötzlich schießt ein kleiner, schwarzer Hengst an mir vorbei. Marieddu gehört zur sardischen Wildpferderasse Cavallini della Giara und läuft auf Mandra Edera frei herum. Und nicht nur er: Kurz nach dem Frühstück werden unsere Pferde für den Wanderritt von der Weide geholt und dürfen erst noch einmal auf dem Hotelgelände grasen und sich genüsslich wälzen, bevor sie dann geputzt und gesattelt werden. Der natürliche Umgang mit Tieren ist hier völlig selbstverständlich. Sie müssen zwar Respekt vor dem Menschen haben, werden dafür aber ihrerseits mit Respekt behandelt. Anschließend bekamen wir eine kurze Unterweisung auf dem Reitplatz. Das Abenteuer beginnt „Das macht die Familie immer so, um zu sehen, ob Pferd und Reiter zueinanderpassen und wie die Reiterfähigkeiten sind“, erklärt uns Illa. Und dann geht es endlich los. Meine siebenjährige Stute Iesola begeistert mich sofort mit ihren Gängen: raumgreifend der Schritt, schwungvoll der Trab und Galopp, ohne je unkontrollierbar zu sein. Und als Reporterpferd hat sie es nicht leicht, muss sie doch dulden, dass ich vorreite oder zurückbleibe und ständig auf- und absteige, um zu fotografieren. Dabei bleibt sie erstaunlich ruhig – bis auf den letzten Tag, beim Strandgalopp …
Wir haben kaum den Hof ver- lassen, als wir schon durch eine völlig andere Welt reiten. Auf einem schmalen Weg, gesäumt von Steinmauern, reiten wir vorbei an kleinen Weinbergen – viele Sarden keltern ihren eigenen Wein. Aus Leidenschaft und weil es zu ihrer Kultur und ihrem Selbstverständnis gehört. Plötzlich erklingen hinter dichtem Gestrüpp unzählige Glocken, und kurz darauf sehen wir eine Herde Schafe. Jedes von ihnen mit einer kleinen Glocke um den Hals. Die wolligen Knäuel werden uns in Zukunft häufiger begegnen: Wenn wir Ihre Weiden überqueren, aber auch auf der Straße, getrieben von Schäfern zu Fuß, im Auto oder auch zu Pferd. Das Land ist berühmt für seinen Pecorino, den leckeren Käse aus Schafmilch – den wir während des Ritts bei der täglichen Brotzeit ausgiebig genießen dürfen. Weniger häufig sieht man Rinder. Bereits nach wenigen Kilometern ist auch die Frage beantwortet, warum Pferde auf Sardinien unbedingt beschlagen sein müssen: Die Bodenverhältnisse reichen von normaler Erde bis hin zu felsigem Geröll. Barhufer wären hier ohne Chance. Als der Boden besser wird, machen wir unseren ersten Galopp. Iesola startet mit einem harmlosen Freudenbuckler, begeistert dann mit einer herrlichen Galoppade. Die Steinmauern, Korkeichen, die unzähligen Pflanzen, die jetzt im April kurz vor der Blüte stehen, fliegen an uns vorbei. Später kommen wir an eine Weggabelung und Daniele zeigt uns den Gebirgszug von Monte Ferru, den wir morgen überqueren werden. Und weiter unten das Nachtlager unserer Pferde. Alles wirkt noch so unendlich weit entfernt, dass wir uns wundern, als wir anderthalb Stunden später den Etappenpunkt unseres ersten Tagesrittes erreichen. Den Pferden steht hier eine riesige Weide zur Verfügung. Wir fahren mit dem Jeep ins nahe gelegene Dorf San Leonardo di Siete Fuentes, das für sein schwermetallarmes Wasser berühmt ist. An den sieben Quellen (Siete Fuentes) deckt Daniele den Tisch, und wir genießen eine typisch sardische Brotzeit aus Käse, Salami, Brot und Rotwein.
Sardische Brotzeit Das Plätschern des Wassers hat eine fast meditative Wirkung. Zusammen mit der ruhigen, liebevollen Art unserer sardischen Begleiter bildet es einen wohltuenden Kontrast zum eher hektischen Deutschland. Wie Daniele uns erzählt, kommen Sarden von überall her, um sich Wasser abzufüllen. Sardinien ist ziemlich groß, nur etwas kleiner als die Niederlande. Das bedeutet unter Umständen eine mehrstündige Autofahrt für einige Kanister Wasser. Bemerkenswert. Nach der Brotzeit fahren wir mit dem Jeep zurück nach Mandra Edera. Eine gute Idee: Die Pferde bleiben am jeweiligen Etappenziel, die Gäste werden mit dem Jeep zurück ins Hotel gebracht. Neben dem Genuss des viergängigen Abendessens hat das auch den Vorteil, dass man nicht ständig die Taschen packen muss. Am nächsten Tag reiten wir mit Barbarangelo weiter. Es geht steil bergan. Für die gut trainierten Pferde kein Problem. Dann treffen wir auf die Rinder. Die Tiere liegen bequem im Gras und schauen uns neugierig an. Ich überlege schon, ob ich absteigen soll, um zu fotografieren, als plötzlich Bewegung in die Herde kommt: Mit einem Ruck stehen alle auf und trotten auf uns zu. Barbarangelo reitet in aller Seelenruhe zum nächsten Tor, öffnet es vom Pferd aus und bittet uns durchzureiten, während er den Rindern den Weg versperrt. Als er hört, dass ich gern Fotos gemacht hätte, steigt er kurzerhand auf Iesola, nimmt sein Pferd als Handpferd an einem langen Strick mit und reitet weiter auf die einige hundert Meter entfernt liegenden Rinder zu. Klasse, so bekomme ich doch noch meine Fotos. Je höher wir kommen, desto karger wird die Landschaft. Hier oben, auf knapp 1.200 Metern Höhe, wirkt der Frühling noch so weit entfernt. Dafür zeigt Barbarangelo uns wilden Thymian und andere Kräuter, die am Wegesrand wachsen. Und den Frühling bekommen wir am nächsten Tag: Während wir mit Daniele abwärts Richtung Meer reiten, tauchen wir ein in blühende Landschaften und betörende Düfte. Und bekommen das schönste Satteltaschenpicknick, das ich bisher erlebt habe: Auf einem mit Steinmauern eingefassten Grundstück steht mitten im Grünen ein Haus, das von der Gemeinde für Feste genutzt wird. Mit direktem Blick auf das Meer. Wir lassen unsere Pferde frei grasen und genießen selbst gemachte Panini mit Auberginen, Zucchini, Käse, Schinken, Tomaten und Salami. Dabei sprechen Bei der Mittagsrast konnten die Pferde frei grasen wir wenig, hören Vogelzwitschern und das gleichmäßige Grasen und Schnauben der Pferde. Strandgalopp Und wissen, dass wir morgen an diesem acht Kilometer langen Sandstrand galoppieren werden. Schon auf dem Weg dorthin kann man das Meer riechen und die leicht salzige Luft schmecken. Wir galoppieren mehrere Kilometer durch ein Wäldchen und stehen dann vor einer Düne. Und dahinter: der endlos lange, menschenleere Strand von Is Arenas. „Galoppo?“, fragt Daniele mit einem Lächeln. Wir nicken. Und fliegen Sekunden später über den hellen Sand. Insgesamt sechs Mal galoppieren wir hier. Zwischendurch reiten wir auch ins Meer hinein. Und bewundern ein weiteres Mal das intuitive Pferdeverständnis von Daniele. Sein Pferd hat Angst vor dem Wasser, steigt gar in die Höhe. Er bleibt ganz ruhig, zwingt den Wallach nicht hinein. Er soll sich in aller Ruhe mit den heranbrandenden Wellen auseinandersetzen.
Und dann geht der erste Huf ins Wasser, dann der zweite und schließlich alle vier. Wir folgen mit unseren Pferden. Später, auf der Rückfahrt nach Mandra Edera, erklärt uns Daniele, dass er vor zwei Jahren schon einmal mit dem Wallach ins Meer reiten wollte. Damals war es aber noch zu früh, die Beziehung zwischen ihm und dem Pferd war noch nicht gefestigt. Heute wusste er dagegen, dass er auf jeden Fall hineingehen würde. Es war einzig eine Frage der Zeit. Und die bestimmte Carmelino. Irgendwie scheint diese, unsere letzte Rückfahrt kein Ende nehmen zu wollen. Und das ist auch gut so, denn eigentlich wollen wir gar nicht weg. Wir versprechen wiederzukommen, zu den Reiterfesten im Sommer und an Karneval. Sardinien ist ein faszinierendes Pferdeland. Ursprünglich, naturverbunden und auch ein klein bisschen wild.
(Text und Fotos: Ilja van de Kasteele)