Sie möchten herausfordernde Situationen erfolgreich meistern, Ihre reiterliche Leistung steigern oder mit dem Pferd ein bestimmtes Ziel erreichen? Kein Problem! Dafür braucht es mentale Stärke und eine gute Konzentration. Beides ist trainierbar.
Wenn es kein Gestern, Morgen oder Übermorgen gibt, keine To-do-Liste, keinen Zeitdruck, keine Personen, über die man sich ärgert, und kein Bereuen vergangener Taten, sondern nichts Schöneres auf der Welt, als den Rasen zu mähen, dann sind Sie womöglich ein Pferd. Die Tiere haben das, was wir Menschen wollen, und das, was wir uns manchmal mühsam erarbeiten müssen: eine gigantisch große Portion Achtsamkeit und eine unglaubliche Life-Balance.
Den Eingang finden
„Achtsamkeit gerät immer mehr in den Fokus vieler Menschen. Für mich bedeutet sie, eine innere Bereitschaft zu haben, etwas bewusst wahrnehmen zu wollen. Sie ist wie eine offene Tür oder eine Eintrittspforte, die zu vermehrter Konzentration und zu Flow-Erlebnissen führt“, so Annika Thode, DOSB-Trainerin B (Leistungssport) und Trainerin B der Deutschen Mentaltrainer Akademie aus dem niedersächsischen Salzhausen. Laut Wikipedia bezeichnet Achtsamkeit „einen Zustand von Geistesgegenwart, in dem ein Mensch hellwach die gegenwärtige Verfasstheit seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von Gedankenströmen, Erinnerungen, Fantasien oder starken Emotionen abgelenkt zu sein, ohne darüber nachzudenken oder diese Wahrnehmungen zu bewerten.“ Die Achtsamkeit richtet den Fokus auf das unmittelbare Erleben, damit eine erhöhte Wahrnehmung mentaler Vorgänge möglich wird.
Schreiten Sie durch die große Tür der Achtsamkeit, treffen Sie auf eine kleinere Tür, hinter der sich die Aufmerksamkeit verbirgt. Sie beschränkt die Wahrnehmung bewusst und weist sie z.B. bestimmten Dingen der Umwelt oder Aspekten des eigenen Handelns, aber auch Gedanken und Gefühlen zu. „Der Prozess der Aufmerksamkeitszuwendung ist dabei gekennzeichnet durch Zuwendung (Orientierung) und Auswahl (Selektivität) der Gegenstände und der damit verbundenen Unaufmerksamkeit gegenüber anderen Gegenständen“, heißt es weiter auf der Online-Plattform. Gesteigerte Wachheit und Aktivierung charakterisieren dabei die Zuwendung, während die Selektivität die Funktion eines Filters einnimmt, um wichtige und unwichtige Informationen besser voneinander trennen zu können.
Als Maß für die Intensität und Dauer der Aufmerksamkeit gilt wiederum die Konzentration. Sie wird definiert als willentliche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Tätigkeit, das Erreichen eines kurzfristig erreichbaren Ziels oder das Lösen einer gestellten Aufgabe für eine gewisse Zeit. Man gelangt durch sie in eine Art positiven Tunnel.
Vom Unterbewusstsein gesteuert
„Vereinfacht kann man sagen, dass Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Fokus und Konzentration aufeinander aufbauen und sich Stück für Stück steigern“, so die Expertin. Sie erklärt dies an einem fiktiven Beispiel: Möchte man sich ein neues Zugfahrzeug für den Pferdeanhänger kaufen, das die Farbe Rot haben soll, nimmt man seine Umwelt achtsamer wahr und sieht plötzlich mehr rote Autos auf der Straße als zuvor. Auf einem Anhängerparkplatz eines Turniers schaut man vielleicht gezielter nach roten Fahrzeugen und blendet alle andersfarbigen aus. Dann konzentriert man sich darauf, welche Parameter es neben der Farbe noch besitzen soll – und schon ist man mittendrin im Mentaltraining.
„Jeder Mensch wird zu einem großen Teil durch sein Unterbewusstsein gesteuert. Wir trainieren also alle ständig mental, aber die Wenigsten setzen diese Fähigkeit bewusst und systematisch ein“, weiß die Ausbilderin. Dabei könnten wir durch diese Fähigkeit Zugriff auf unser Unterbewusstsein erlangen und unsere Aufmerksamkeit noch viel gezielter lenken. Warum ist das im Reitsport so wichtig? Eine gute Konzentration sorgt nicht nur für eine gesteigerte Unfallverhütung, sie ist eine Verpflichtung des Reiters seinem Pferd gegenüber, bekräftigt Thode. Denn: „Je konzentrierter der Mensch im Sattel ist, desto klarer sind seine Gedanken. Durch eine realistische Selbsteinschätzung nimmt er wahr, was er sich und seinem Pferd zumuten kann. Er fühlt, was das Pferd ihm sagt. Das beinhaltet auch, die Entscheidung zu treffen, etwas nicht zu tun. Dann geht vielleicht das, was ich mir vorgenommen habe, eben nicht. Ich akzeptiere diesen Umstand, bleibe gelassen und meinem Sportpartner gegenüber fair“, erklärt die Mentaltrainerin.
Es gibt viele Situationen in der Reiterwelt, die vom Reiter Konzentration abverlangen. Ein Beispiel? Das Wetter ist schlecht und die Reithalle dementsprechend voll. Hinzu kommen zwei Anfänger, welche die Bahnregeln noch nicht so gut beherrschen, ein bockendes Pferd und jemand, der Handarbeit macht. „Dann übe ich vielleicht keinen Außengalopp, weil ich die Aufmerksamkeit dafür in der gegenwärtigen Situation nicht aufbringen kann. Dafür bekomme ich ein anderes Lerngeschenk. Das ist doch super. Schnellt mein Puls aber bereits beim Führen in die Höhe, steige ich nicht in den Sattel, sondern verlasse die Halle einfach wieder – auch das ist vollkommen in Ordnung.“ Annika Thode nennt das: Finde dein Warum. „Ist die Konzentration gerade wichtig? Bin ich in der Lage, die aktuelle Herausforderung anzunehmen? Möchte ich sie gerade nicht annehmen? Was genau ist das Thema für heute?“
Auf die Lösung fokussiert
Herausfordernde Situationen einzuschätzen und mögliche Schwierigkeiten zu überwinden gelingt leichter, wenn sich der Reiter gut konzentrieren kann. Der Grund? Er kommt dadurch aktiv ins Handeln. „Durch eine gelenkte Aufmerksamkeit ist es möglich, meinen Fokus nicht so sehr auf das Problem zu lenken, sondern viel mehr auf die Lösung. Das hilft dabei, zielorientierter vorzugehen“, weiß die Expertin. Die Form der Konzentration hängt dabei stark von den gesteckten Zielen ab. „Bei Vielseitigkeitsturnieren kann es einem Reiter passieren, dass die drei Teilprüfungen Dressur, Gelände und Springen zeitlich über den gesamten Tag verteilt sind. Dann ist eine Strategie erforderlich, um trotz der langen Wartezeit erfolgreich zu sein“, sagt Thode. Es geht um die Frage: Wann nutzen wir welche Art der Aufmerksamkeit?
Der Sport-Psychologe Robert Nideffer unterscheidet vier Formen der Aufmerksamkeit: außen weit, außen eng, innen weit und innen eng. „Bezogen auf den Turniersport könnte „außen weit“ für das Schweifen des Blickes über den Turnierplatz zur ersten Orientierung stehen. Im Fall von „außen eng“ könnte es darum gehen, den Einritt in das Dressurviereck zu suchen. Bei „innen weit“ überprüfe ich, wie es mir geht. Bin ich aufgeregt? Wie nehme ich meinen Körper wahr? Fühle ich mich wohl? Im Falle von „innen eng“ fokussiere ich mich auf ein bestimmtes Körperteil: Wie fühlt sich der Druck des Zügels in meiner Hand an? Woran denke ich gerade?“, erklärt die Mentaltrainerin.
Zusätzlich spielen reiterliche Fähigkeiten eine wichtige Rolle. Fortgeschrittene Reiter benötigen beispielsweise für das Leichttraben nur wenig Konzentration. Wenn aber erwachsene Anfänger es erlernen, müssen sie ein hohes Maß an Konzentration an den Tag legen. Fragen Sie sich selbst: Wofür brauchen Sie Konzentration? Beim Aufsteigen von der linken Seite vielleicht nicht mehr. Aber gelingt es Ihnen auch von der rechten? Ist das eine Challenge für Sie? Oder ist es eher das Aussitzen im Galopp, die Gruselecke, die offene Hallentür, Zuschauer an der Bande, der laute Traktor im Gelände, die stark befahrene Straße, das plötzlich hervorspringende Reh im Unterholz? „Herausfordernde Situationen, die ich nicht beeinflussen und gestalten kann, rauben uns immer dann unsere Konzentration, wenn wir nicht gelernt haben, ihnen mit mentaler Stärke und einem Handlungsplan zu begegnen“, weiß Thode.
Menschen konzentrieren sich außerdem unterschiedlich gut. „Einige sind morgens gleich nach dem Aufstehen hoch konzentriert und könnten sofort die Welt verändern, bei anderen geht vor dem ersten Kaffee nichts. Einige lassen sich schnell aus der Ruhe bringen, andere hingegen kaum“, merkt sie an. Beim Reiten kommt dann noch der vierbeinige Trainingspartner ins Spiel. Für das eine Pferd braucht der Reiter vielleicht mehr Konzentration als für das andere. „Die gesamte Konzentrationsfähigkeit hängt vom jeweiligen Mensch-Pferd-Paar ab. Sie ist aber für beide gut trainierbar“, sagt die Ausbilderin und verweist auf die sogenannte Flow-Pyramide für Sportler.
Die Flow-Pyramide
Hier steht die Körperwahrnehmung, also die Einschätzung des eigenen Körpers, an erster Stelle. Es geht um das bewusste und gezielte Lenken der eigenen Aufmerksamkeit auf den gesamten Körper oder auf bestimmte Bereiche, um sich selbst mit allen Sinnen wahrzunehmen. Daneben gilt es, die eigenen emotionalen oder geistigen Zustände bewusst wahrzunehmen. Um die Körperwahrnehmung zu erhöhen, gibt es verschiedene Übungen, u. a. Atem- und Achtsamkeitsübungen, Gleichgewichtstraining sowie Entspannungstechniken (z. B. progressive Muskelentspannung).
Der Körperwahrnehmung folgt das Körpergefühl in der Flow-Pyramide. Dabei wird durch Aktivierungs- oder Entspannungstechniken ein optimales Spannungsniveau erreicht. Es beschreibt aber auch ein angenehmes, sich mit dem eigenen, vertrauten Körper im Einklang befindliches Gefühl. Sitzt eine ungewollte Anspannung von einem stressigen Tag noch im Körper? Weiß ich, was jedes einzelne Körperteil in meinem Körper macht? Kann ich es gezielt beeinflussen? Wie viel Druck wende ich auf, und ist dieser angemessen?
Jetzt erst gelangt der Sportler zum Bewegungsgefühl, das viel unbewusster vonstatten geht als die Körperwahrnehmung und das Körpergefühl. Hier sind die Bewegungen schneller und fließend. Sie laufen fast automatisch ab. Durch verschiedene Übungen und Techniken, wie Koordinationstraining, Neuroathletik oder die Kontrastmethode (das bewusste Stören des Bewegungsablaufs, um diesen zu optimieren, z.B. mit den Franklinbällen) wird eine Leistungssteigerung erreicht.
„Doch Körper- und Bewegungsgefühl sind sehr individuell. Wenn ich zehn Reiter fragen würde, wie sich das Angaloppieren anfühlt, bekäme ich zehn verschiedene Antworten. Reiter können aber lernen, ihr Gefühl besser zu beschreiben und weiter zu verfeinern, wenn sie ihre Aufmerksamkeit gezielt lenken“, so Thode. Der Fokus kann u.a. auf die Bewegung der Hüfte oder der Beine im Moment des Angaloppierens gerichtet werden. So lassen sich auch die Hilfen im Sattel immer feiner und differenzierter geben.
Je besser das Bewegungsgefühl ist, desto eher kommt es zum Flow-Erleben. „Im Flow machen wir uns keinen Kopf mehr über Konsequenzen, sondern wir gehen voll und ganz in unserer Tätigkeit auf und verspüren dabei ein Gefühl von Freude und Leichtigkeit. In diesem Zustand erreichen wir unsere größtmögliche Leistungsfähigkeit und unsere persönliche Bestleistung. Wir kommen von einer bewussten zu einer intuitiven Bewegungssteuerung des Körpers in vollkommener, entspannter Konzentration und mit höchster, innerer Motivation“, erläutert die Mentaltrainerin. Hierfür sei es wichtig, die Aufmerksamkeit zwischen den oben beschriebenen vier Formen bewusst steuern zu können. „Das lässt sich durch mentales Training hervorragend trainieren“, sagt sie.
Optimaler Trainingsbereich
Um den Flow-Zustand zu erreichen, sollten Aufgaben gestellt werden, die Pferd und Reiter weder über- noch unterfordern. Der Trainingsbereich befindet sich am besten genau in der Mitte. „Im Idealfall sind Pferd und Mensch so eng im Dialog miteinander, dass ihnen das Drumherum egal ist. Ja, vielleicht merken beide gar nicht, dass plötzlich jemand eine Abschwitzdecke über die Hallenbande wirft, die Reithalle betritt oder verlässt. Der Flow ist wie ein Geschenk – und je besser ich mich konzentrieren kann, umso schneller erreiche ich ihn“, so Thode.
Aber: Er ist nicht erzwingbar. Eine zu starke willentliche Fokussierung kann exakt das Gegenteil bewirken. „Viele Turnierreiter stresst es bereits, wenn ich ihnen sage, wir treffen uns pünktlich um 10.34 Uhr in der Reithalle, und vorher reitest du alleine ab. Das erklärt, warum sie in der Prüfung nicht an ihre Leistung herankommen, die sie im Heimatstall zeigen. Auch, wer sich nur technisch auf eine Lektion konzentriert, wird weder die Lektion an sich verbessern noch in den Flow-Zustand kommen“, gibt die erfahrene Expertin zu bedenken. Gleiches gilt für Reiter, die alles auf einmal wollen. „Wer einen guten Schritt, einen noch besseren Trab und Galopp in einer einzigen Trainingseinheit reiten möchte, dazu noch vollendete Seitengänge, eine optimale Stellung und Biegung, das perfekte Rückwärtsrichten oder die idealen Übergänge, wird keinen Erfolg haben. Konzentrieren Sie sich lieber auf ein konkretes Ziel“, rät die Trainerin. Für einen guten Galopp könnten Sie beispielsweise die Galoppsprünge zählen, die Ihr Pferd für einen halben Zirkel benötigt. Dann reiten Sie genau die gleiche Anzahl erneut. Gelingt dies auch auf der anderen Hand? Jetzt reiten Sie den halben Zirkel mit nur einer Hand. Danach sagen Sie das ABC auf, während Ihr Trainer am Boden die Galoppsprünge zählt. „So wird der Reiter im positiven Sinne gestresst und kommt in die Konzentration“, erläutert sie.
Wenn Aufmerksamkeit schwindet
Es ist normal und vollkommen in Ordnung, wenn die Aufmerksamkeit irgendwann schwindet. „Stellen Sie sich vor, Sie nehmen seit einer Dreiviertelstunde an einem Springunterricht teil“, führt die Ausbilderin aus. „Nun erklärt Ihnen der Trainer den Parcours, den Sie reiten sollen. Sie versuchen, ihn anschließend im Kopf zu visualisieren, doch während des Reitens vergessen Sie die letzten beiden Hindernisse.“ Nimmt die Konzentration ab, leidet vor allem das Bewegungsgefühl des Reiters und die Kommunikation mit dem Pferd darunter. Schnell kommt es zu schlechten Bildern. „Ich werde ungerecht und unfair. Außerdem wandert mein Fokus plötzlich zu den Personen, die die Reithalle betreten. Alles, was dazu führt, dass ich mit der Aufmerksamkeit unbewusst im Außen bin, zeigt mir, dass ich nicht mehr richtig konzentriert bin“, sagt die Expertin. Das spüren die Pferde.
Spätestens jetzt ist es Zeit für eine Pause – und zwar für eine richtige. Denn Reiter neigen dazu, sich nur halbherzige Ruhezeiten zu nehmen. Fragen Sie sich: Wie sieht die ideale Pause für Sie und Ihr Pferd aus? „Ein ambitionierter Vielseitigkeitsreiter geht vielleicht für ein paar Runden auf dem äußeren Hufschlag in den leichten Sitz im Galopp. Jemand anderes reitet Leichttraben oder Schritt am langen Zügel. Wenn ein Pferd aber nicht entspannt am langen Zügel schreitet, ist Stehenbleiben eventuell die bessere Wahl. Das andere Pferd stresst das Stehen aber vielleicht mehr, als es zu entspannen“, zählt Thode einige Beispiele auf.
Fazit: Wie bleiben Sie im Sattel entspannt und konzentriert? Und womit tanken Sie Ihre Akkus wieder auf? Das sind zwei elementare Fragen, um feines Reiten zu erreichen. „Die Antworten darauf kann jeder nur für sich selbst geben“, so die Mentaltrainerin.
Text: Inga Dora Schwarzer
Bild: slawik.com