Sie müssen nicht Biomechanik studiert haben, um zu verstehen, dass andauernder Zug am Zügel, eine falsche Kopfhaltung oder ein zu enges Reithalfter sich negativ auf den Pferdekörper auswirken. Ihr Pferd zeigt es Ihnen. So verstehen Sie den Körper und die Seele Ihres Pferdes besser
Das Fitnessstudio kann ich mir sparen“, sagt Lea. Schließlich reitet sie fast jeden Tag. Ihr neues Pferd, ein großrahmiger Warmblutwallach mit dem Namen Shaman, hält sie ordentlich fit. „Ich habe nach dem Reiten oft Muskelkater, vor allem in den Armen und Beinen“, erzählt sie. Eigentlich ist Lea eine schmächtige, junge Frau. Doch wenn sie die Ärmel hochkrempelt, erinnert sie an Popeye im Miniaturformat. Ihrem Pferd hingegen fehlt es an Muskulatur. Der Widerrist sticht spitz heraus und die Kruppe wirkt eingefallen. „Das verstehe ich nicht. Ich trainiere ihn doch regelmäßig“, sagt Lea.
Beim Abtasten fällt auf, dass Shaman sich sehr fest hält. Besonders an der unteren Halsseite und an der Stelle, an der der Reiterschenkel liegt, fühlt sich die Muskulatur hart an. Das kann eine Folge von Leas reiterlicher Einwirkung sein. In dem Moment, in dem die Reiterin mit den Zügeln starken Druck ausübt, empfindet das Pferd Schmerzen und reagiert mit einer Anspannung der Muskulatur. Da der Pferdekörper ein in sich geschlossener Kreislauf ist, kann sich ein punktueller Druck auf das ganze System auswirken. Wie beim Dominospiel bringt ein umgefallener Stein alle folgenden zu Fall. Auf dauerhaft starken Druck am Gebiss, ein zu enges Reithalfter und Stress reagieren die meisten Pferde zuerst mit einer verspannten Kaumuskulatur. Dies wiederum führt zu einer eingeschränkten Beweglichkeit des Kiefergelenks, einer Kieferblockade. Losgelassenheit beim Reiten ist dann nur noch eingeschränkt möglich. Mit einem einfachen Test können Sie herausfinden, ob Ihr Pferd in dem Bereich möglicherweise Probleme hat. Tasten Sie Ihr Pferd von der Maulspalte ausgehend zum Genick hin ab. Mit ein wenig Feingefühl können Sie schräg oberhalb des Auges den Übergang zwischen Unterkiefer und Schädelknochen ertasten. In diesem Bereich, den Sie normalerweise an einer kleinen Grube erkennen, befindet sich das Kiefergelenk (siehe Grafik). Knapp darunter liegt der große Kaumuskel. Sie können Ihr Pferd auch mit ein wenig Futter zum Kauen bringen. So fällt es Ihnen leichter, das Gelenk und den Muskel zu lokalisieren. Wenn Ihr Pferd beim Abtasten dieses Muskels knapp unter dem Kiefergelenk eine Abwehrreaktion zeigt und Sie starke Verhärtungen spüren, spricht dies für Verspannungen des Kaumuskels und eine damit einhergehende Kieferblockade. Beim Reiten äußert sich das oft in einer eingeschränkten Kautätigkeit. Das Pferd speichelt in der Regel weniger. Bei starkem Stress kann es jedoch auch dazu kommen, dass das Pferd stoßartig und übermäßig speichelt. Beobachten Sie Ihr Pferd genau – wenn Sie ihm genug Freiraum lassen, wird es Ihnen sagen, wie es sich fühlt. Wenn Ihr Pferd überhaupt nicht kaut beim Reiten, brauchen Sie sich jedoch nicht gleich Sorgen zu machen. Es gibt Pferde, die von Natur aus einfach nicht oder nur wenig speicheln.
Wie funktioniert das Pferd?
Biomechanisch gesehen bestehen enge Zusammenhänge zwischen dem Maul und dem Bewegungsapparat. Alles, was Sie mit den Zügeln machen, wirkt sich aufs ganze Pferd aus. Wie das funktioniert? Ganz einfach: Sie beeinflussen durch das Gebiss vor allem Zunge und Laden. Daran hängen die Kau- und Zungenbeinmuskeln. Auf starken plötzlichen oder permanenten Druck reagieren diese Muskeln mit einer Anspannung, was auf Dauer das Kiefergelenk blockiert. Das Ganze hat wiederum zur Folge, dass der Kopf-Arm-Muskel, der sogenannte Unterhals, nicht mehr optimal arbeiten kann (siehe Grafik). Bei Shaman sieht man das deutlich. Anstatt die Halsmuskulatur beim Reiten locker rhythmisch an- und abzuspannen, hält er eine permanente Spannung des Unterhalses aufrecht. Sobald Lea ihren Wallach in eine Anlehnung bringt, scheint er sich mit dem Unterhals gegen das Gebiss zu stemmen. Es sieht fast schon aus wie ein Hirschhals. Das Gewicht, das auf Leas Zügeln lastet, ist ungeheuerlich. „Am nächsten Tag fühle ich mich oft, als ob ich Hanteltraining gemacht hätte“, sagt die junge Frau. Auch ihrem Pferd wird es nicht besser ergehen.
Die Verspannungen aus dem Kopf-Arm-Muskel setzen sich weiter fort über die Brustmuskulatur bis in die Bauchmuskulatur. Da die Vorhand des Pferdes nicht über knöcherne Strukturen mit der Wirbelsäule verbunden ist, wird das Pferd auf lange Sicht gesehen im Schulterbereich absinken und stark vorhandlastig werden. Der Raumgriff und die allgemeine Beweglichkeit der Schulter werden dadurch eingeschränkt. Die Zunge und der Kiefer stehen also in direkter Verbindung zur Mobilität der Vorderbeine. Bei einem nicht kauenden, verspannten Pferd wirkt der Gang beim Reiten mit aufgenommenen Zügeln oft klemmig. Das Pferd stolpert häufig und sieht beim Traben und Galoppieren aus, als werde es schräg in den Boden hinein laufen. Außerdem wird es vermehrt über die Vorhand wenden. Wenn Sie zum Beispiel beim Führen die Richtung um 180 Grad ändern, wird das stark vorhandlastige Pferd dazu die Hinterbeine bewegen und die Vorderbeine mehr oder weniger auf einer Stelle stehen lassen. Klar, Pferde sind von Natur aus vorhandlastig. Doch wenn wir sie reiten möchten, ist es unsere Aufgabe, sie in die Balance zu bringen. Die seitliche Biegung auf der Kreisbahn und Seitengänge helfen, das Pferd zu lösen und mehr Gewicht auf die Hinterhand zu bringen. Neben dieser gymnastizierenden Arbeit bringen auch einfaches Vorwärtsschreiten am hingegebenen Zügel, Klettern im Gelände, kleine Sprünge und Cavaletti-Arbeit sehr viel. Wenn Sie den Zügel dabei annehmen, ziehen Sie nicht rückwärts und halten Sie Ihre Hand möglichst hoch, etwa zwei Handbreit über dem Widerrist. Damit verhindern Sie, dass unnötiger Druck auf die Zunge kommt. Gestatten Sie Ihrem Pferd zu keinem Zeitpunkt, sich auf das Gebiss zu legen. Wird es leicht am Zügel, geben Sie ihn sofort hin und loben Sie Ihr Pferd.
Übungen, die Wunder wirken
Ein Wundermittel für vorderhandlastige und generell verspannte Pferde sind Mobilisationsübungen des Unterkiefers. Im Anfangsstadium führen Sie diese im Stand aus. Stellen Sie sich vor Ihr Pferd und regen Sie es durch ein Gebiss zum Kauen an. Das führt zu einem Entspannen des Unterkiefers, was eine Lockerung der Halsmuskulatur bewirkt. Insbesondere wird der Kopf-Arm-Muskel angesprochen. Achten Sie bei den Lockerungsübungen darauf, dass Sie Ihr Pferd zwischendurch immer wieder in eine entspannte Vorwärts-Abwärts-Haltung bringen. Denn nur eine abwechselnde Ab- und Anspannung wirkt lockernd. Eine dauerhafte Anspannung führt zu Verspannung. Wenn das Kiefergelenk und die umliegenden Muskeln locker sind, werden Sie feststellen, dass die Schulterfreiheit Ihres Pferdes und der Raumgriff der Vorderbeine deutlich größer werden.
Wenn Sie das erreicht haben, erreichen Sie auch den Rücken Ihres Pferdes. Die biomechanische Kette funktioniert folgendermaßen: Alles, was Sie vorne am Maul und Gebiss machen, wirkt sich in erster Linie auf die untere Muskelkette, sprich auf die untere Hals-, die Brust- und die Bauchmuskulatur aus. Wenn diese Muskeln geschmeidig und locker sind, kann auch der Rücken entspannt schwingen. Denn jeder Muskel hat einen Antagonisten, einen Gegenspieler. Wenn die Bauchmuskulatur richtig arbeitet, wird auch die Rückenmuskulatur richtig arbeiten und andersherum. Fürs Reiten ist besonders die äußere schiefe Bauchmuskulatur interessant, weil dort der Schenkel liegt. Über treibende Impulse können Sie die Kontraktion des Muskels direkt beeinflussen. Geben Sie immer nur dann einen Impuls, wenn der Bauch zu Ihrem Bein hin pendelt. Wenn Sie entspannt auf dem Pferd sitzen, bekommen Sie dafür relativ schnell ein Gespür. Wenn Sie Ihren Schenkel richtig einsetzen, stimulieren Sie die äußere schiefe Bauchmuskulatur. Da diese in enger Verbindung mit dem Becken und dem Oberschenkel steht, können Sie mit Ihrem Schenkel das gleichseitige Hinterbein aktivieren. Es tritt weiter unter oder über. Das beeinflusst den gesamten Körper, denn die Bewegung fließt über die biomechanische Verkettung der Muskeln nach vorne bis zum Maul. Ihr Pferd fängt an zu kauen und wird leichter in der Hand.
Bauchmuskeln spielen große Rolle
Andersherum funktioniert das auch. Starker Zug am Zügel oder eine falsche Beizäumung, die oft in einem Einrollen des Pferdehalses, in einem falschen Knick oder in einer übermäßigen Aufrichtung sichtbar wird, kann bewirken, dass der Schub aus der Hinterhand nicht mehr richtig nach vorne übertragen wird. Das wird oft daran sichtbar, dass das Pferd das Hinterbein beim Abfußen nach hinten rausdrückt und beim Auffußen nicht weit unter den Körper tritt. Ein Pferd, das in Anlehnung geht, ist also noch lange kein Pferd mit aktiver Hinterhand. Das gleiche gilt für die Rückentätigkeit. Starker Zug am Zügel und ein falsches Einstellen des Pferdekopfes durch den Reiter bewirken wie oben erklärt Verspannung bis in die Bauchmuskulatur. Da die Bauchmuskulatur zusammen mit der inneren Lendenmuskulatur eine Aufwölbung der Brust- und Lendenwirbelsäule bewirkt, ist die Rückentätigkeit eingeschränkt. Wenn das Pferd dauerhaft mit einer falschen Kopfhaltung geht, kommt es langfristig gesehen oft zu Knieproblemen oder zu Problemen im Illiosakralgelenk. Das Illiosakralgelenk befindet sich im Übergang zwischen Lendenwirbelsäule und Kruppe. Das Gelenk ist für die Kraftübertragung der Hinterhand nach vorne zuständig.
Beim Reiten fühlen sich Pferde, die aufgrund einer falschen Zügeleinwirkung verspannt sind, oft bretthart an. Sie können nicht ruhig und geschmeidig im Pferd sitzen, sondern werden durchgeschüttelt. Oft haben diese Pferde eine übermäßige Schiefe. Ein schmaler, spitz herausstechender Widerrist, stark ausgebildete Schulterblätter und generell wenig Muskulatur sind ebenfalls typische Anzeichen für ein verspanntes, im Extremfall zügellahmes Pferd. Wenn Sie Ihr Pferd gesund reiten wollen, brauchen Sie Leichtigkeit und Harmonie mit Ihrem Pferd. In der Praxis bedeutet das: Wenn Sie Ihr Pferd nur mit großem Kraftaufwand zu einem Schulterherein bewegen können, lassen Sie es lieber ganz. Hören Sie auf Ihr Pferd. Schlägt es mit dem Schweif, knirscht es mit den Zähnen oder geht überhaupt nicht vorwärts, fühlt sich Ihr Pferd nicht wohl und kann nicht locker gehen. Der erste Grundsatz lautet daher: Schaffen Sie eine entspannte Atmosphäre für Ihr Pferd. Dann fangen Sie langsam und spielerisch mit dem Training an. Als Lea ihre Reitweise umstellt, fühlt sie sich viel besser. „Ich habe ein völlig neues Pferd“, sagt sie. Nach einigen Wochen, in denen sie vor allen Dingen Lockerungsübungen am Boden und Ausritte am hingegebenen Zügel macht, beginnt Shaman wieder, sanft an das Gebiss heranzutreten. Jetzt hält Lea in den Händen nicht mehr als das Gewicht der Zügel. Shaman entwickelt im Laufe des Trainings eine gute Muskulatur. Zum ersten Mal füllen sich die Kuhlen hinter seinen Schulterblättern und er bekommt einen kleinen Kragen, Muskulatur am oberen Hals. Lea ist stolz auf ihre Entwicklung: „Ich hätte nicht gedacht, dass Reiten sich so leicht anfühlen kann.“
Text: Redaktion Foto: Alizee Fromment