Manche Wissenschaftler halten das menschliche Gehirn für das komplexeste Gebilde des Universums. Auch im Reitsport wird die Funktion dieses einzigartigen Organs immer häufiger thematisiert. Wenn wir die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen dem Gehirn des Menschen und dem des Pferdes kennen, können wir die Kommunikation verbessern und ein ganz neues Verständnis schaffen

Ob im täglichen Umgang oder beim Training – wir erwarten oft ganz selbstverständlich, dass unsere Pferde die menschliche Welt und uns verstehen. Weltweit werden heutzutage etwa 60 Millionen Pferde gehalten. Alleine in Deutschland gibt es laut einer Studie der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) knapp drei Millionen aktive Reiter. Dabei finden ganz unterschiedliche Pferd-Reiter-Paare zusammen. Wer nun da- von ausgeht, dass jeder Vierbeiner nahezu von Natur aus weiß, was ein Mensch denn gerade von ihm möchte, der setzt voraus, dass beide Spezies die Welt ähnlich sehen und ähnlich denken. Klar, beide besitzen ein Gehirn, und genau das beeinflusst auch den Erfolg der Beziehung. Das Denkorgan kontrolliert jedes Verhalten: vom Blinzeln bis zum Bocken. Wer mit seinem Pferd ein gutes Team bilden möchte, sollte sich daher mit der Gehirnfunktion beschäftigen.

Gehirn: Besser als ein Supercomputer

Das Gehirn ist ein komplexes und überaus effizientes Organ zur Informationsverarbeitung. Es ist ständig in Bewegung und hat ähnlich viele Rechenelemente wie die größten Supercomputer, braucht jedoch rund eine Million Mal weniger Energie. Außerdem lernt es ständig dazu. Auf engstem Raum sind rund 1.000 Milliarden Nervenzellen zu einem Netzwerk verbunden. Kein Wunder, dass manche Wissenschaftler das menschliche Gehirn für das komplexeste Gebilde des Universums halten. Wie die Zellen des Gehirns genau Informationen verarbeiten, also wie sie beispielsweise lernen oder sich erinnern, wird immer noch rege erforscht. Die Arbeitsweise des Denkorgans zu kopieren, ist bisher nicht gelungen. Ein Gehirn lässt sich nicht einfach durch einen Computer nachbauen und bleibt so zum Teil immer noch eins der ewigen Geheimnisse der Menschheit. Im Reitsport wird gerade erst damit begonnen, die Wissenschaft über die Gehirnfunktionen (die Neurophysiologie) häufiger zu berücksichtigen. „In der Vergangenheit wurden Pferd und Reiter hauptsächlich nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum sowie durch gezielten Unterricht ausgebildet“, schreibt Janet L. Jones in ihrem neuen Buch „Horse Brain, Human Brain“. „Man setzte sich ein Ziel für das Pferd, probierte verschiedene Methoden aus, um es zu erreichen, und nutzte diejenigen, die funktionierten. Diese ausgewählten Methoden gaben die Trainer dann an andere Reiter weiter.“ Doch das Arbeiten nach Versuch und Irrtum bedeutet auch, dass eine Menge Fehler passieren können. So besteht jedes Mal das Risiko, dass das Pferd etwas lernt, was es eigentlich nicht lernen sollte. Das unerwünschte Verhalten muss schlussendlich wieder abtrainiert werden, was nicht nur schwierig, sondern teilweise sogar gefährlich sein kann, zum Beispiel weil es das Pferd irritiert oder sogar verärgert.

Reiten gegen das Gehirn

Wenn Mensch und Pferd zusammentreffen, begegnen sich zwei Individuen – mit unterschiedlicher Herkunft, verschiedenen Erfahrungen, mit Stärken, aber auch Schwächen. Selbst Zwillinge erleben im Alltag unterschiedliche Situationen und machen dadurch unterschiedliche Erfahrungen. „Deshalb kann eine Trainingsmethode, die für das eine Pferd-Reiter-Team sehr gut funktioniert, für das nächste Team problematisch oder nutzlos sein“, betont Janet L. Jones. „Dazu kommt die Tatsache, dass einige Trainingstechniken nicht so einfach gelernt und gelehrt werden können, wie wir das gern hätten.“ Wenn Ihnen ein Trainer sagt, wie Sie die Hände zu halten oder die Beine zu bewegen haben, können Sie die Anweisungen immer sofort umsetzen? Oder kennen Sie die Situationen, in denen Sie denken „Ich versuche es ja und weiß, was ich machen soll, aber mein Körper will es nicht richtig umsetzen“? Es braucht viele Versuche und Wiederholungen, um ein gut ausgebildeter Reiter zu werden und um ein Pferd entsprechend gut zu trainieren. „Allzu oft versagen die gewählten Techniken und Methoden im Hinblick darauf, wie das Gehirn funktioniert und arbeitet“, gibt unsere Expertin zu bedenken. So können wir Pferde bis zu einem gewissen Grad dazu bringen, sich einem angstauslösenden Objekt zu nähern, doch diese Methode arbeitet eigentlich genau gegen die Hirnfunktion des Pferdes statt mit ihr. Dieses „Reiten gegen das Gehirn“ geschieht häufiger, als wir denken.

Ein neuer Trainingsansatz

Solche Konflikte fallen uns jedoch meist erst auf, wenn wir mehr über das Gehirn von Mensch und Pferd wissen und Zusammenhänge verstehen. „Das Problem beim Lernen und Lehren über Versuch und Irrtum ist auch, dass wir daraus nicht ableiten können, wie und warum eine bestimmte Technik funktioniert“, sagt Janet L. Jones. Genau hier könne die Gehirnforschung helfen: „Indem wir mehr über das ‚Wieso‘ und das ‚Wie‘ des Gehirns von Mensch und Pferd lernen, stärken wir unsere Teamfähigkeit deutlich“, so die Autorin. Ein entscheidender Punkt ist, dass wir uns Gedanken darüber machen, warum ein Pferd ein bestimmtes Verhalten zeigt. Dann sind wir bereit, zu überlegen, wie dieses Verhalten auf der Ebene des Gehirns verändert werden kann. Wer die Prinzipien versteht, nach denen Pferde handeln, ist in der Lage, viel besser einzuschätzen, welche Methode funktionieren wird. „Berücksichtigen wir im Umgang mit Pferden die Funktionsweise des Gehirns, können wir neue Techniken entwickeln, die sich für individuelle Teams perfekt eignen“, erklärt Janet L. Jones und fügt hinzu: „Pferd und Reiter arbeiten gemäß ihrer Natur und in Einklang mit ihrem Innenleben harmonisch zusammen, gleichzeitig erkennen wir die Unterschiede zwischen Pferd und Mensch an.“ Das laufe im Grunde nach dem bekannten Prinzip: „Gib einem Menschen einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag – bringe ihm das Fischen bei, und er hat in seinem Leben genug zu essen.“ Mit einem Trainingsansatz, der die Gehirnfunktion berücksichtigt, werden beide Seiten zufriedener und erfolgreicher sein.

Zusammenhänge verstehen

Zwar lehrt die aktuelle Sportpsychologie uns etwas über unsere Gehirnfunktion, aber wir erfahren so gut wie nichts darüber, wie das Pferdegehirn funktioniert. Das liegt unter anderem daran, dass vieles, was wir heute über das Gehirn wissen, relativ neu ist und die Forschung weiter voranschreitet. Hinzu kommt, dass Pferde relativ schwierig beziehungsweise aufwändig zu untersuchen sind. Wer seinen Vierbeiner besser verstehen möchte, sollte sich nicht nur damit beschäftigen, wie die Gehirne von Mensch und Pferd jeweils einzeln funktionieren, sondern auch damit, wie beide Gehirne interagieren. „Gegenseitiger Austausch und Kommunikation sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Teamarbeit“, so Janet L. Jones. Genau dies sei es, was die Verbindung von Neurowissenschaft und Horsemanship verspreche: eine außergewöhnliche Partnerschaft, bei der die Gehirne zweier unterschiedlicher Spezies erfolgreich miteinander arbeiten. Stellen Sie sich vor, Sie geben Ihrem Pferd ein Kommando zum Vorwärtsgehen. Dabei ist eine kleine Gruppe von Nervenzellen in Ihrem Gehirn aktiv. Nun geht das Pferd einen Schritt nach vorn, was ebenfalls durch Nervenzellen ausgelöst wird. Durch sein Verhalten sendet der Vierbeiner Signale an Sie zurück. „Pferd und Mensch reagieren auf das Verhalten des jeweils anderen – ein Tanz zweier Gehirne“, hebt unsere Expertin hervor.

Beobachten, zuhören, lernen

Viele Reiter denken, das Pferd habe sich immer nach den Vorstellungen des Menschen zu richten. Natürlich müssen wir Grenzen setzen und haben eine gewisse Erwartung, die wir deutlich formulieren. Doch Training ist viel effektiver und schöner, wenn wir versuchen, zu verstehen, was das Pferd uns sagen möchte. Sie werden zum Pferdeflüsterer, wenn sie beobachten, zuhören, lernen und nachdenken. Versuchen Sie, mit Ihrem Pferd auf seiner Ebene zu kommunizieren, anstatt zu fordern, dass es sich Ihnen permanent anpasst. Stellen Sie sich vor, Sie üben das ruhige Führen. Womit fangen Sie an? Womöglich mit der Frage, wie Sie es Ihrem Pferd beibringen können. Doch sinnvoller ist es, einen Schritt früher zu beginnen: Wie lernt ein Pferd? Was sieht es? Warum hat es möglicherweise Angst? Wenn Sie sich ein gutes Miteinander mit Ihrem Vierbeiner wünschen, müssen Sie überlegen, wie Ihr Pferd eine Beziehung aufbaut und was Sicherheit für es bedeutet. Fragen zu stellen und die Antworten im Training umzusetzen, braucht Zeit. So mancher wird nun sagen, dass es doch schneller gehe, dem Pferd einfach Kommandos beizubringen. „Ein Lebewesen zum Befolgen von Kommandos zu zwingen, heißt aber nicht, dass es wirklich etwas lernt, und häufig funktioniert dies nur für kurze Zeit“, gibt Janet L. Jones zu bedenken. „Warum machen wir uns stattdessen nicht interessant für das Pferd und wecken seine Neugier, bis es selbst tun möchte, was wir von ihm wollen? Bedienen wir die Bedürfnisse des Pferdes – dann bedient das Pferd unsere.“

Raus aus der Einbahnstraße

Wenn wir mit dem Pferdegehirn arbeiten anstatt dagegen, wird jede Aktion entspannter – angefangen bei der Begrüßung in der Box oder auf der Weide. Und genau hier beginnt ja eigentlich schon das Training: bei der ersten Begegnung zwischen Mensch und Pferd. Wenn Sie die Einbahnstraße verlassen, in der Sie die Kommandos geben und Ihr Vierbeiner gehorcht, wird sich das Training verbessern. „Es wird sicherer, einfacher, schneller, effektiver und außerdem unendlich viel interessanter, sobald die Kommunikation zwischen den Partnern in beide Richtungen funktioniert“, sagt unsere Expertin. „Wir erleben die Welt dabei durch das Gehirn einer anderen Spezies. Das ist ein großartiges Gefühl und bedeutet letztendlich wahres Horsemanship.“

Text: Aline Müller     Foto: www.Slawik.com

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