Oft schleicht er sich heimtückisch von hinten an, kriecht um uns herum und hat uns mit einem Mal fest im Griff – gemeint ist der Stress. Der Umgang mit Pferden ist dazu geeignet, einen Schritt zurückzugehen und zu hinterfragen, was wirklich wichtig im Leben ist. Die Mentaltrainerinnen Antje Heimsoeth und Evi Lang haben sich diesem Thema gewidmet. Und auch die hoch erfolgreiche Dressurreiterin Jessica von Bredow-Werndl hat ihren Weg zur Entspannung gefunden.

 

Ursprünglich wurde das Wort Stress abgeleitet vom lateinischen Verb „stringere“ für „anspannen“, welches die englische Sprache übernahm. Mit „Druck, Anspannung“ lässt es sich ins Deutsche übersetzen, und es gibt wohl kaum jemanden, der nicht schon den viel genutzten Satz ausgesprochen hat: „Ich bin heute so im Stress.“ Doch muss dies eigentlich sein? Wie kann jeder von uns sein Leben entschleunigen?

Der Spiegel im Stall

Pferde spiegeln das Verhalten von Menschen wie wenige andere Tiere. Sie geben uns eine direkte Antwort, wie wir auf sie zugehen und mit ihnen umgehen. Sie sind praktisch ein Therapeut im eigenen Stall. Und sie können uns zur Ruhe bringen und uns helfen, stressige Situationen zu bewältigen. Evi Lang erklärt: „Was wir von Pferden insbesondere lernen können, ist das Im-Hier-und-Jetzt-Sein. Wenn wir beim Pferd sind, haben wir die Möglichkeit, unsere Sorgen fallen zu lassen und mit uns selbst einen Schritt in Richtung Achtsamkeit zu gehen.“ Jeglicher Stress, den wir zum Pferd tragen, wird entsprechend gespiegelt, und die Reitstunde oder auch das Pflegen wird bei Anspannung niemals zur vollen Zufriedenheit verlaufen.

Das alltägliche kleine Glück

„Das Glück liegt auf der Straße“, heißt es so schön. Es muss nur gefunden und aufgehoben werden. Nichts leichter als das, mag manch einer daraufhin denken. Und doch scheint der Weg zu mehr Glück und Lebensfreude für zahlreiche Menschen nur schwer zu finden zu sein. Gründe dafür können hohe Erwartungen sein, aber auch die Tatsache, dass diese Menschen ihr alltägliches, kleines Glück einfach übersehen.

„Ich würde den Menschen am liebsten immer die Glückslupe in die Hand geben, damit sie all die Glücksmomente sehen, die tagtäglich um sie herum stattfinden. Beim Thema Glück geht es ganz viel um Achtsamkeit, Wahrnehmung, Zufriedenheit und Optimismus“, betont Mentaltrainerin ­Antje Heimsoeth. „Eine Möglichkeit für mehr Achtsamkeit im Alltag ist ein kleines Dankbarkeitstagebuch. Jeden Abend schreibt die betreffende Person darin mindestens fünf Dinge auf, für die sie dankbar ist. Woran viele Leute nicht denken: Das können auch ganz kleine Dinge sein. Das schöne Wetter, das Vogelgezwitscher, entspannt das Pferd auf der Weide beobachten. Eine nette Geste von jemandem, ein „Danke“, ein Zulächeln, ein neuer Auftrag, eine gut gerittene Lektion. Und damit die Leute wissen, dass das nicht nur leere Phrasen sind: Ich führe ein solches Tagebuch seit 2003 jeden Tag. Ein, zwei Mal im Jahr vergesse ich das, aber dann wird es am nächsten Tag nachgeholt.“

Insbesondere die Entspannung gemeinsam mit dem Pferd – sei es an einem schönen Sommertag auf der Weide oder gemütlich in eine Decke eingekuschelt im winterlichen Stall – kann immer Momente des Glücks zutage fördern. Stress wird durch solche Momente der Achtsamkeit automatisch verringert. Festhalten kann man diese Glücksmomente nicht nur in einem physischen Tagebuch oder einem Notizheft. Auch zahlreiche Apps wie „Daylio“ sorgen heute mit minimalem ­Aufwand dafür, stressige und glückliche Situationen des Tages zu identifizieren und diese entsprechend häufiger oder weniger häufig einzubauen. Bei den meisten Reitern, welche die Zeit mit ihrem Pferd bewusst als ­Auszeit wahrnehmen, ist diese Zeit eine echte ­„Quality Time“.

Bewusst beenden und beginnen

Evi Lang erklärt, dass der Übergang von Arbeit zu Freizeit bewusst wahrgenommen werden sollte. Gerade nach einem anstrengenden Tag ist dies wichtig. „Ein Ritual kann beispielsweise sein, ins Auto zu steigen, die Musik anzumachen und dadurch den Körper bzw. dessen Anspannung hinter sich zu lassen. Vielen Menschen hilft ein kurzer Spaziergang, und wenn es auch nur eine Runde um das Auto ist. Da die meisten Reiter ihre Pferde eher außerhalb der Städte stehen haben, kann der Weg zum Pferd ein Weg in die Entspannung sein, wenn dieser Weg nur bewusst als ein solcher wahrgenommen wird.“

Auch durch das Ausziehen der Business-Kleidung und das Anziehen der Reitkleidung kann ein bewusstes Zeitfenster entstehen, welches den Abschluss einer Phase des Tages und den Beginn einer anderen verkörpert. „Ich persönlich stelle mich auch gerne unter die Dusche und spüle praktisch den einen Teil des Tages ab, um mich dann voll und ganz der Freizeit zu widmen“, erzählt Antje Heimsoeth. „Vielen hilft es auch, wenn sie ihren Schreibtisch aufräumen und schon die Termine für den nächsten Tag vorbereiten. Das kann alles ein Übergang sein, um dann die folgende Zeit beispielsweise mit dem Pferd als vollkommen stressfrei zu erleben.“

Störfaktoren raus!

Störfaktoren wie die ewig nörgelnden Mitreiter sollten jedoch, so gut es geht, ausgeblendet werden. Evi Lang erklärt: „Sie können einen natürlich wieder runterziehen, wenn man im Zusammenwirken mit dem Pferd eigentlich glückliche und stressfreie Momente erlebt. Deshalb betone ich meinen Klienten gegenüber immer, dass sie sich nur so viel Zeit wie nötig mit solchen Menschen umgeben sollten. Ein Gespräch, bei dem das Gegenüber nur seine eigene schlechte Leis­tung – die es natürlich zu bedauern gilt – im Sinne hat und dann am Ende möglicherweise sogar noch eine von Neid bestimmte ­Äußerung hinsichtlich der eigenen positiven Erlebnisse kundtut („Aber noch eine Klasse höher, das schaffst du mit einem Pferd von dieser Qualität doch ohnehin nicht“), ist so schnell wie möglich zu beenden.“ Beide Mentaltrainerinnen kennen zahlreiche Möglichkeiten auf dem Weg zu einem bewussteren Leben und weniger Stress. Eine Übung kann beispielsweise der „Spiegel“ sein. Dabei stellt sich die Person eine typische Situation aus ihrem Alltag in einem Spiegel vor. „Das kann etwas sein, was sich schon seit langer Zeit negativ entwickelt, oder auch ein ganz aktuelles Problem“, erklärt Evi Lang. „Wenn es beispielsweise Unfrieden gibt mit der Reitbeteiligung, ein Problem mit dem Trainer oder Reitlehrer, eine Lektion im Training nicht klappt, dann geht es in dieser mentalen Übung darum, dieses Bild im schwarzgerahmten Spiegel zu zerschlagen und sich stattdessen die Situation in einem weißen Rahmen vorzustellen, so wie sie sein sollte. Ergibt sich vor dem inneren Auge keinerlei Bild, sollte die Person sich die Worte vorstellen, „So oder besser zum Wohle aller“. Oft ergibt sich daraufhin nach und nach ein Bild, wie alles aussehen sollte.“

Entspannung durch Körperhaltung

Evi Lang betont, dass Entspannung auch durch eine bewusste aufrechte Körperhaltung hervorgerufen werden kann. „Reiter sitzen ja ohnehin mit geradem Rücken im Sattel. Aber dennoch kann es helfen, sich noch einmal auf dem Pferd bewusst aufzurichten und spüren, wie der Rücken gerade und die Haltung aufrecht ist. Zudem ist es besonders wichtig, diese Haltung nicht zu verlieren, sobald der Reiter vom Pferd gestiegen ist. Dies kann jeder einfach für sich ausprobieren. Die Person stellt sich aufrecht mit geradem Blick und die Hände oberhalb des Bauchnabels hin. Dann versucht sie eine umgekehrte, in sich zusammengesunkene, gebückte Körperhaltung, bei der die Hände in den Taschen stecken oder herabhängen. Was fühlt sich besser an? Oft bringt schon der Wechsel der Haltung Entspannung.“

„Powernapping“

Dressur-Weltmeisterin Jessica von Bredow-Werndl entspannt nicht nur mit Yoga, sondern auch durch kleine Rituale. „Ich habe das Powernapping für mich entdeckt. Wenn ich zehn bis 15 Minuten Luft habe, suche ich mir einen ruhigen Ort, wo ich mich kurz hinlegen kann – am besten eignet sich dafür meines Erachtens der Stall oder ein Stallzelt auf dem Turnier – und schließe für ein paar Minuten die Augen. Den Wecker darf ich dabei nicht vergessen – und den würde ich auch jedem anderen empfehlen. Grundsätzlich versuche ich, zum Zeitpunkt der Prüfung fit und ausgeschlafen zu sein, das ist die beste Entspannung. Denn so fühlt sich der Reiter viel ruhiger und nicht gestresst. Abläufe, die immer gleich sind, wie das Einflechten der Mähne, bringen Routine, lassen die Gedanken schweifen und lenken von der Aufregung ab. Mein Pferd tut ein Übriges mit seinem ruhigen genussvollen Verhalten während der Arbeit, um mich selbst ruhiger werden zu lassen. Solche Tätigkeiten sollten also nicht zwangsläufig abgegeben werden, sondern der Reiter sollte sie bewusst als Zeit zusammen mit dem Pferd wahrnehmen und in aller Ruhe genießen.“

Ruhebild und Ruheort

Antje Heimsoeth rät dazu, sich ein Ruhebild zu „installieren“. „Jeder Sportler, der mentales Training praktiziert, hat ein Ruhebild, mit dem er sich blitzschnell in hektischen, stressigen Situationen auf ein niedrigeres Erregungsniveau herunterholen kann. Das Ruhebild kann eine schöne Erinnerung oder auch reine Phantasie sein. Und Pferde können dabei natürlich eine große Rolle spielen. Ein Galopp am Strand im Urlaub, die heimische Weide im Sommer, Kuscheln in der Box. Wichtig ist, dass man sich das Bild mit allen Sinnen (sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen) vorstellen kann. Diese Orte werden immer wieder geistig im Kopfkino aufgesucht. Einen solchen schönen Ort suchen sich die Personen in einer ruhigen Minute aus. Nach dem Training in weniger stressigen Situationen gelingt es dem Menschen, sich auch in sehr hektischen Situationen ins Ruhe­bild hineinversetzen zu können.“ Auch Evi Lang rät dazu, sich einen inneren Ruheort zu suchen, wie sie es nennt. „Das kann ein Strand sein, ein Berg, eine Insel oder einfach der Stall oder die Weide, auf der das eigene Pferd beobachtet wird. Ein Ort, an dem es schön ist, an den man immer wieder zurückkehren kann und der mit keinerlei negativen oder stressigen ­Erinnerungen behaftet ist.“

 

Teyt: Alexandra Koch, Bild: slawik.com

#doitride-Newsletter   Sei dabei und unterstütze die #doitride-Kampagne! Mit unserem Newsletter verpasst Du keine Neuigkeiten rund um #doitride. Jetzt aktivieren!