Lange war es ein Rätsel, wie es zu der sogenannten Zitterkrankheit der Pferde, dem „Shivering“, kommt. Inzwischen ist man schlauer. Und man weiß: Training hilft!
Hardy ist ein 18-jähriger großer brau- ner Wallach. Ein mächtiges Pferd, „keine Gazelle!“, wie seine Besitzerin Heidi sagt. Hardy kann auf Turniererfolge bis Klasse M** verweisen, geht zuhause aber auch Einerwechsel, Pirouetten, Piaffe und Passage. Aber jetzt ist er gerade fertig mit dem Training. Entspannt steht er auf der Stallgasse und genießt es, wie seine Besitzerin ihm die Schweißstellen von der Trense mit der Wurzelbürste kratzt, ehe sie ihm das Halfter überstreift, um abzusatteln und die Gamaschen zu entfernen. Sieht alles ganz normal aus. Aber als sie Hardy in die Box gebracht hat, fällt auf, dass der Braune die rechte Hinterhand anders benutzt als die linke, wenn er sich umdreht. Er hebt das Bein recht steif und hoch an, verharrt einen Augenblick in dieser Position und setzt es dann irgendwie unbeholfen weiter rechts wieder ab. Das sieht krank aus und das ist es auch. Hardy hat Shivering.
Shivering, zu Deutsch „Zittern“, ist eine Bewegungsstörung, bei der man sich noch nicht völlig sicher ist, woher sie kommt. Aber man hat herausgefunden, dass vor allem männliche, große Pferde betroffen sind und dass die Krankheit meist vor dem siebten Lebensjahr auftritt. Das alles trifft auf Hardy zu. Seine Besitzerin berichtet: „Ich bekam ihn vierjährig. Am Anfang hat man noch gar nicht viel gemerkt. Aber dann bekam er beim Hufe auskratzen Probleme, sich auf drei Beinen auszubalancieren. Und der Hufschmied konnte Hardys Hufe schließlich nur noch dann bearbeiten, wenn er an der Wand stand, wo er Halt hatte.“ Auch rückwärts gehen an der Hand war schwierig. Heute weiß Heidi: All das ist typisch für Hardys Krankheit. Damals war Shivering jedoch noch weitgehend unbekannt. Dass ihr Wallach betroffen ist, erfuhr Heidi mehr oder weniger zufällig, weil eine andere Einstallerin beim Anblick des krampfenden Hardys feststellte: „Oh, du hast einen Shiverer.“ „Einen was habe ich“, fragte Heidi verwundert nach, und wurde dann aufgeklärt, was es mit diesem Phänomen auf sich hat.
„Shivering ist eine chronische Krankheit, die mit dem Alter meist schlimmer wird“, erklärt Carolin Gerdes, leitende Oberärztin der Abteilung Orthopädie an der Tierklinik Hochmoor. Eine Heilung ist also nicht möglich. Gleichwohl können Pferde mit Shivering ein langes glückliches Leben führen – so man denn einige Punkte beachtet. Lange Zeit war völlig unklar, was Shivering eigentlich ist. Inzwischen ist man in dieser Hinsicht etwas weiter.
Shivering: Die Ursache
Was der Auslöser für Shivering ist, konnte bei verschiedenen Studien an der Universität Michigan geklärt werden. Dort hat man Muskulatur, Nervenzellen und die Gehirne betroffener und gesunder Pferde untersucht und anschließend die Ergebnisse verglichen. Die Untersuchungen am Bewegungsapparat brachten kaum nennenswerte Unterschiede zwischen den Gruppen zum Vorschein. Es konnten keine Anomalien in den zugehörigen Muskelfasern der Vorder- und Hinterbeine festgestellt werden und auch die zugehörigen peripheren Nerven waren unauffällig. Deutliche Veränderungen waren allerdings im Kleinhirn der Shiverer festzustellen. Hier waren auffällige Degenerationen vorhanden. Inzwischen gilt es als sicher, dass diese Veränderungen im Gehirn die Ursache für Shivering sind. Wie sie entstehen, ist allerdings immer noch unklar. Da man festgestellt hat, dass besonders bestimmte Rassen betrof- fen sind (große Warmblüter und Kaltblüter), kann eine erbliche Komponente nicht ausgeschlossen werden. Allerdings gibt es noch keine Studien, die diese Vermutung bestätigen und es gibt auch noch keinen genetischen Test für die Erkrankung. Bei der Untersuchung der Gehirne von Pferden mit Shivering fand man heraus, dass die Anzahl der Synapsen um neuronale Zellkörper in den tiefen Kleinhirnkernen bei den Shiverern verringert waren. Dafür fanden sich mehr Astrozyten bei den betroffenen Pferden, die auch aktiver sind als bei den Pferden der Kontrollgruppe. Astrozyten, oder auch Sternzellen, sind sozusagen die Versorger der Neuronen.
Die Zusammensetzung der Muskelfasern hingegen unterschied sich nicht wesentlich zwischen Shiverern und gesunden Pferden. Anders ist es allerdings, wenn man die Muskelaktivität misst. Dabei stellte sich heraus, dass in der Gruppe der gesunden Pferde die Muskelaktivität bei Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen in etwa dieselbe ist. Höher sind die Amplituden (Ausschläge der Muskelaktivität) im Trab. Bei den Shiverern hingegen waren signifikant hohe Ausschläge der Muskelaktivität beim Rückwärtsgehen festzustellen. Man vermutet, dass die erhöhte Muskelaktivität auf einen sogenannten Myoklonus zurückzuführen ist, also ein kurzes, blitzartiges Zusammenziehen und Anspannen des Muskels. Bei manchen Erkrankungen des menschlichen Kleinhirns – das unter anderem für die Steuerung der Motorik zuständig ist – gehört der Myoklonus zu den Merkmalen. Die Forscher sind daher zu dem Schluss gekommen, dass eine Schädigung des Kleinhirns zu einer abnormalen Muskelkontraktion führen kann. Möglichweise wird das Kleinhirn beim Rückwärtsgehen und Hufe aufheben anders beansprucht, als beim Vorwärtsgehen. Dafür spricht, dass es auch beim Menschen unterschiedliche Funktionsketten zu geben scheint, die Vorwärts und Rückwärts steuern. Dass Pferde mit Shivering größere Probleme haben, aus dem Stand über einen Gegenstand zu treten, als aus der Vorwärtsbewegung heraus, kann möglichweise erklären, weshalb sie sehr wohl in der Lage sind, komplizierte Bewegungen im Vorwärts auszuführen, wie Traversalen etc., aber Probleme haben, sobald es rückwärts geht. Carolin Gerdes dazu: „Es scheint, dass die Bewegungsabläufe, mit denen sie geboren wurden, besser funktionieren.“
Und sich vorwärts zu bewegen, ist für das Fluchttier Pferd ja überlebenswichtig. Fohlen können bekanntlich schon kurz nach der Geburt mit der Herde mitgaloppieren.
Shivering: Die Behandlung
Heilen kann man Shivering nicht, aber man kann einiges tun, um den Pferden das Leben leichter zu machen. Das sollte man auch, denn – und das ist die schlechte Nachricht – Shivering scheint für die Pferde mit Schmerzen verbunden zu sein. Zumindest dann, wenn sie stark krampfen. „Inwieweit die Pferde Schmerzen haben, ist schwierig zu untersuchen“, sagt Carolin Gerdes. „Aber man muss davon ausgehen, dass Shivering zumindest zeitweise schmerzhaft ist, weil die Pferde bei bestimmten Bewegungen Anzeichen von Stress zeigen. Das ist ein Hinweis auf Schmerz“, so die Expertin der Tierklinik Hochmoor.
Heidis Hardy hat zunächst vor allem eine Futterumstellung geholfen. Ihr Wallach bekommt seit rund zwölf Jahren „Goldpferd Sorgenfrei“, eine getreidefreie und stärkearme Mischung, die unter anderem für Pferde mit muskulären Problemen entwickelt wurde. Carolin Gerdes bestätigt: „Bei Pferden mit Shivering sollte wie auch bei anderen darauf geachtet werden, dass sie kohlenhydratarmes, aber fettreiches Futter bekommen. Wir nennen das die Pro-Muskel-Fütterung. Außerdem sollte man auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin E achten.“ Dass es hilft, hat Heidi schon nach einem dreiviertel Jahr feststellen können. „Auf einmal hatte Hardy keine Probleme mehr beim Hufschmied.“ Das ist ein großer Fortschritt, denn solche Termine können für Shiverer sehr stressig sein. Und Stress sollte möglichst vermieden werden, weil es die Symptomatik verschlimmert. Ist also z. B. der Termin beim Hufschmied mit viel Aufregung verbunden, sollte man eine Sedierung in Erwägung ziehen, um die Prozedur für alle Beteiligten angenehmer zu gestalten. Noch ein Tipp, der besonders beim Hufschmied helfen kann: die Pferde vorher reiten. Dann haben sie ein besseres Bewegungsgefühl und die Muskulatur ist gelöster. Apropos Muskulatur: Für manche betroffene Pferde ist es eine Tortur, transportiert zu werden, weil sie sich dabei so verkrampfen, dass sie kaum vom Anhänger kommen. Hier sollte man testen, ob ein Transporter, aus dem sie vorwärts aussteigen können, den Pferden Erleichterung verschafft.
Training hilft
Interessant beim Shivering: Viele Pferde, die an der Hand massive Probleme haben – etwa beim Rückwärtsrichten –, bewegen sich unter dem Sattel völlig normal und können dann auch rückwärts treten. Carolin Gerdes erklärt: „Gutes Reiten unterstützt die Koordination. Die Pferde lernen unter dem Sattel durch die Hilfen des Reiters, wie sie ihre Beine setzen müssen, um rückwärts gehen zu können.“ Diese Erfahrung hat auch Heidi gemacht. Sie berichtet: „Pirouetten dreht Hardy auf dem Teller, bei den Piaffen hat er manchmal noch Probleme, aber auch das klappt.“ Sie kennt allerdings auch die Situation, dass sie an manchen Tagen aus der Ecke heraus eine wunderbar kadenzierte Traversale einleiten kann, während Hardy sich an anderen Tagen zwar zum Vorwärts-Seitwärts überreden lässt, aber ohne Ausdruck. Wie sie sagt: „An manchen Tagen traversiert er für eine 8, an anderen für eine 6.“ Aber alles in allem kann man sagen, dass sorgsame Ausbildung die beste Methode ist, um Shiverer lange fit und leistungsfähig zu halten. Die meisten, egal, ob Dressur- oder Springpferde, können alles lernen. Aber unter Umständen braucht der Reiter etwas mehr Geduld. „Gutes Training, Muskelaufbau, Koordinationsarbeit und so viel Bewegung wie möglich sind neben der Fütterung und Stressreduktion die wichtigsten Eckpfeiler für das Management von Shivering-Patienten“, betont Carolin Gerdes. Sie empfiehlt außerdem, dass regelmäßig ein Physiotherapeut bzw. Osteopath oder Chiropraktiker bei den Pferden vorbeischaut. „Manualtherapeuten können Verspannungen und Verkrampfungen der Muskulatur lösen. Das ist sehr wichtig!“, weiß die Medizinerin. Und noch eines legt sie allen Besitzern von Shivering-Pferden ans Herz: „Das Umstellen auf reine Boxenhaltung ist Gift für diese Pferde! Sie sollten möglichst ständig in Bewegung sein, auch neben dem normalen Training. Arbeitspausen sollten vermieden werden!“ Das bedeutet natürlich nicht, dass man täglich in der Halle Lektionen schrubben muss. Ausritte über verschiedene Böden sind eine super Alternative, gerade für Shiverer, weil sie die Koordination schulen und die Pferde körperlich fordern.
Text: Redaktion Foto: www.Slawik.com