Dressurreiterin und Ausbilderin Uta Gräf hat sich zum zweiten Punkt „Losgelassenheit“ der Skala der Ausbildung ebenso Gedanken gemacht wie die Para- Dressurreiterin und außerdem im Regelsport erfolgreiche Regine Mispelkamp sowie die Ausbilderinnen Kerstin Gerhardt und Dr. Britta Schöffmann
Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) definiert die Losgelassenheit als zweiten Punkt auf der Skala der Ausbildung wie folgt: „Von Losgelassenheit spricht man, wenn das Pferd innerlich loslässt, sich zwanglos bewegt und dabei die gesamte Muskulatur des Pferdes unverkrampft mitarbeitet. Dadurch wird es erst richtig in die Lage versetzt, sich in allen drei Grundgangarten gleichbleibend taktrein und raumgreifend vorwärtsbewegen zu können, ohne im Bewegungsablauf eilig zu werden.“ („Richtlinien für Reiten und Fahren Band 1: Grundausbildung für Reiter und Pferd“). Weiter heißt es hier: „Die Losgelassenheit ist gekennzeichnet durch regelmäßiges An- und Entspannen der Muskulatur, setzt Zwanglosigkeit voraus und beinhaltet innere Gelassenheit.“
Die Losgelassenheit gehört wie der Takt als erster Punkt der Skala der Ausbildung ebenfalls in die sogenannte „Gewöhnungsphase“ ganz am Anfang der Ausbildung des Reitpferdes. Auch hier geht es vor allem darum, das Gleichgewicht des Pferdes zu schulen (siehe „Takt“ in der Ausgabe 1/2020 von Mein Pferd“). Allerdings geht hier bereits das Grundlegende aus der Gewöhnungsphase über hin zur zweiten Phase, nämlich der Entwicklung der Schubkraft, die später durch Anlehnung, Schwung und Geraderichtung fortgeführt wird.
Skala der Ausbildung: Losgelassenheit wahrnehmen
Als Reiter spürt man die Losgelassenheit des Pferdes dadurch, dass die Bewegungen über den schwingenden Pferderücken durch dessen Körper hindurchlaufen. Auch wenn die Losgelassenheit in der Lösungsphase ein essenzieller Bestandteil ist, sollte sie auch bei intensivem Training und sportlichen Höchstleistungen erhalten bleiben. Die Könner im Dressurviereck präsentieren ihre Pferde daher in einer losgelassenen und nicht verspannten Haltung. Konzentrierte Anspannung ist zur Losgelassenheit kein Widerspruch. Sie arbeitet praktisch durch Muskelan- und -entspannung mit ihr zusammen. Die Bewegungen in Übergängen und bei Tempo-Unterschieden sollten im Takt und fließend sein, was nur durch Losgelassenheit gelingt. Erst durch sie ist eine sichtbare Bewegungsharmonie von Reiter und Pferd möglich.
Losgelassenheit ist nicht nur ein körperlicher Zustand des Pferdes. Sie kann nur erreicht werden, wenn dieses auch psychisch entspannt ist. „Dies wird selbstverständlich erreicht durch Abwechslung im Training sowie eine absolut artgerechte Haltung des Pferdes mit viel Weidegang und freier Bewegung an der frischen Luft bei jedem Wetter“, betont Dressurreiterin und -ausbilderin Uta Gräf. „Durch einen freien Kopf entsteht beim Pferd auch Lern- und Leistungsbereitschaft. Die Haltungsbedingungen sind essenziell für die Entwicklung der Losgelassenheit unter dem Sattel. Dabei betone ich immer wieder, wie wichtig Sozialkontakte und Bewegung für jedes Pferd sind– egal welchen Alters und egal, welchen Einsatzzweck es erfüllen soll. Auch die Ernährung sollte bei den Bedürfnissen des Pferdes nicht außer Acht gelassen werden. Sie spielt für das Training und das Wohlbefinden des Pferdes eine wichtige Rolle. Leider wird immer häufiger die Wichtigkeit des essenziell wichtigen hohen Raufutteranteils unterschätzt. Nur so kann das Pferd zu innerer Losgelassenheit finden und nicht durch zu viel Kraftfutter bereits unter Strom stehen.“ Als Stressfaktoren, welche der Förderung der Losgelassenheit entgegenwirken, nennt sie Bewegungsmangel, Stress im Herdenverband durch falsche Zusammenstellung, zu energiereiches Futter und leider auch immer wieder schlecht sitzende bzw. schlecht angepasste Ausrüstung, welche den Bewegungsumfang des Pferdes ebenso einschränkt wie eine unsichere oder übermäßig stark agierende Reiterhand. Sie empfiehlt daher auch erfahrenen Reitern, immer wieder in Reitstunden oder Trainingseinheiten unter Anleitung von bewanderten Trainern an sich zu arbeiten. Neben dem schwingenden Pferderücken gibt es für den Reiter weitere wahrnehmbare Kennzeichen eines losgelassenen Pferdes. Dabei kann er sichtbar den getragenen und sichtbar mit der jeweiligen Bewegung pendelnden Schweif wahrnehmen sowie eine ruhige Maultätigkeit mit geschlossenen Lippen und leichter Kautätigkeit. Das Fallenlassen des Halses mit verbundener Bereitschaft zur Dehnung und dabei eine tragende Oberhalsmuskulatur sowie eine entspannte Unterhalsmuskulatur, welche als Muskelspiel wahrnehmbar sind, gelten als weitere sichtbare Merkmale. Außerdem haben losgelassene Pferde einen zufriedenen Gesichtsausdruck ohne Verspannungen. Dies ist ebenfalls am Ohrenspiel zu erkennen. Alle Gliedmaßen schwingen deutlich durch. Die Atmung eines Pferdes, welches bei der Arbeit losgelassen agiert, ist gleichmäßig und entspannt, was auch durch ruhiges Abschnauben erkennbar ist. Die Muskulatur des Pferdes kann sich nur durch das stetige An- und Entspannen der verschiedenen Muskelgruppen beim Jungpferd optimal entwickeln. Dies gelingt durch einen stetigen zwanglosen Wechsel der beiden Zustände. Bei einem Pferd mit optimaler Losgelassenheit ist die Muskulatur deutlich dehnungsfähiger und dadurch auch leistungsfähiger als bei einem schlecht ausgebildeten und gymnastizierten Pferd. Die Gelenke werden durch diese Tatsache weniger belastet und sind bewegungs- fähiger. Durch Verkrampfungen werden die Muskeln weniger durchblutet und der Muskelstoffwechsel ist eingeschränkt. Dadurch bildet sich die Muskulatur automatisch falsch aus bzw. geht zurück. Die Gesundheit und Belastbarkeit des Pferdes werden durch die Vernachlässigung der Arbeit in Sachen Losgelassenheit langfristig gefährdet. Auch die mentale/psychische Verfassung des Pferdes kann durch eine falsche Ausbildung drastisch eingeschränkt werden.
Skala der Ausbildung: Erarbeiten der Losgelassenheit
Zum Erarbeiten der Losgelassenheit ist vor allem ein vielseitiger Trainingsaufbau notwendig. Je nach Stand der Ausbildung des Pferdes muss dies selbstverständlich individuell gestaltet werden. Es empfiehlt sich dabei, unter Anleitung eines erfahrenen Trainers oder Ausbilders vorzugehen. Empfehlenswerte lösende Lektionen können beispielsweise Mittelschritt am hingegebenen Zügel, Trab-Arbeit im Arbeitstrab auf großen gebogenen Linien (Leichttraben) oder Galopp-Arbeit im leichten Sitz auf ebenfalls großen gebogenen Linien sein. Auch häufige Handwechsel oder das Reiten von Übergängen fördern die Losgelassenheit. Für fortgeschrittenere Pferde eignet sich das Übertreten und das Verlängern der Tritte bzw. auch Schenkelweichen für eine fortwährende Förderung der Losgelassenheit.
Uta Gräf empfiehlt, dass zwischen den einzelnen Lektionen zur Erarbeitung und Förderung der Losgelassenheit das Herauskauen im Trab und Galopp eine gute Übung ist. „Danach sollte das Trainingsprogramm in der gleichen Gangart fortgesetzt werden.“ Gräf erachtet es zudem als überaus wichtig, am eigenen Sitz und der Haltung stets zu arbeiten, um dem Pferd mehr Möglichkeit zur Losgelassenheit zu geben. „Dazu gehört, sich zunächst einmal der eigenen (An-)Spannung bewusst zu werden und dieser entgegenzuwirken. Dazu gibt es viele Übungen und Techniken, die man an der Longe in aller Ruhe und Sicherheit – auch als erfahrener Reiter – ausüben kann. Schwingen üben, Festklemmen verhindern, dem Pferd durch die eigene Haltung Ruhe vermitteln.“
Text: Alexandra Koch Foto: www.Slawik.com