Interview: Inga Dora Schwarzer Foto: De Agostini via Getty Images
Pferde sind Steppen-, Herden-, Flucht- und Beutetiere und zeigen dementsprechende Verhaltensweisen. Für den Reiter ist es wichtig zu verstehen, warum es so und nicht anders reagiert. Je mehr er über die Bedürfnisse weiß, desto eher kann er unerwünschtes Verhalten verhindern und für Wohlbefinden sorgen. In einer achtteiligen Interviewreihe mit Verhaltenstherapeutin Susanne Grun (www.horselearningbysusn.com) schauen wir uns nach und nach verschiedene Verhaltensweisen genauer an – dieses Mal steht Ernährungsverhalten im Fokus.
Welche Verhaltensweisen gehören dazu?
Das Pferd ist ein typischer Pflanzenfresser und sein Organismus ist ganz darauf konzipiert, große Mengen an rohfaserreichem, energiearmem Futter aufzunehmen. Das Fressverhalten erscheint zunächst problemlos und gar unkompliziert. Doch es gibt so viele Missverständnisse, denn den wenigsten Hauspferden wird es ermöglicht, sich artgerecht zu ernähren. Was natürlich zu unliebsamen Folgen führt. Krankheiten wie Koliken, Hufrehe, Kreuzverschlag etc. lassen sich oft allein auf die falsche Ernährung des Pferdes zurückführen. Wild lebende Pferde widmen sich ca. 16 Stunden am Tag der Nahrungsaufnahme. Sie beginnen meist in den frühen Morgenstunden und fressen dann bis Mitternacht. Dabei gehen die Pferde sehr langsam und wählerisch vor. Geschickt durchsuchen sie mit ihren beweglichen Lippen das Gras und wählen ganz geschickt nur genau die Pflanzen und Kräuter aus, die schmecken und die sie auch gerade in der Situation brauchen (Fellwechsel, evtl. Krankheiten oder Verletzungen). Sie fressen nicht nur Gras, sondern auch Beeren, Früchte, Blumen, Wurzeln oder Wasserpflanzen, je nach Vorkommen in ihrem Weidegebiet. Wenn wir weidende Pferde (z.B. unsere Dülmener Wildpferde) beobachten, zeigt sich, dass sie offenbar taunasses Gras bevorzugen. Daraus schließen wir, dass das Pferd (wie viele Wildarten) von Natur aus ein nächtlich oder gegen Morgen äsendes Tier ist. Auch ist davon auszugehen, dass das sogenannten Nassfüttern natürlichen Bedingungen entspricht.
Welche Bedürfnisse muss der Mensch erfüllen?
Das Futter sollte immer bodennah gefüttert werden, dies entspricht der natürlichen Fresshaltung und verhindert Schlundverstopfung oder auch ein zu schnelles Schlingen. Die wichtigste Zutat auf dem Speiseplan unserer Pferde muss immer ein einwandfreies Raufutter sein. Dazu zählt natürlich Heu und Stroh, aber auch Gras. Raufutter ist einfach ein unersetzlicher Bestandteil der Pferdenahrung, denn es ist kaufähiges Material. Ich muss leider oft feststellen, dass in den Reitställen aufgrund der schwierigen Beschaffung, Qualitätsproblemen, hohen Preisen, zu wenig Lagermöglichkeiten und auch dem vermehrten Arbeitsaufwand nur zweimal am Tag Heu gefüttert wird. Da ergeben sich dann manchmal bis zu zehn Stunden Fresspausen am Tag und 14 Stunden Nachtpause. Dies ist absolut nicht pferdegerecht und führt ja auch oft zu Koliken und anderen Störungen des Verdauungsapparates. Es fällt mir auch auf, dass in Ställen, in denen eben (ja oft auch aus Gründen wie Stauballergie oder dem Strohbauch) zu wenig Raufutter verabreicht wird, mehr Verhaltensauffälligkeiten auftreten als in Ställen mit 24/7-Heufütterung. Aus den genannten Gründen wird dann vermehrt Kraftfutter verabreicht. Das ist dann für viele Pferde das Highlight des Tages, und schon haben wir Verhaltensweisen wie Übererregung, Ersatzbeschäftigungen, Benagen oder anderes, nach Aufmerksamkeit heischendes Verhalten. Wir Menschen müssen also unbedingt das Bedürfnis des Pferdes nach ausreichendem Raufutter sowie nach ausreichend und ständig zur Verfügung stehendem frischem Wasser erfüllen.
Unsere Wiesen können meist nicht mehr die Nährstoffe bieten, die unsere Pferde benötigen. Deshalb sollten wir (je nach Alter, Arbeitsintensität und Stoffwechsel) darauf achten, den Pferden die notwendigen Salze und Mineralien zum Elektrolytausgleich (Natrium, Chlor, Kalium, Calcium, Magnesium u.v.m.) zu verabreichen, die es für die Körperfunktion braucht. Hier bietet sich ein guter Salzleckstein aus Kochsalz (chem. Natriumchlorid) an. Lecksteine, die viel Melasse enthalten, eignen sich nicht, denn die Pferde fressen sie innerhalb weniger Tage auf und nehmen so viel zu viel Salz auf. Auch sollten wir von den Unmengen an Fertigfuttermitteln wie industriellem Müsli absehen. Hier empfehle ich immer, genau die Zutatenliste zu lesen und sich ggf. durch ein Blutbild zu vergewissern, ob das Pferd einen Mineral-/Vitamin-/Vitalstoffmangel hat.
Was passiert, wenn diese Verhaltensweisen nicht ausgelebt werden können?
Es entwickeln sich arge Verhaltensauffälligkeiten oder zumindest unerwünschtes Verhalten, wenn die Pferde ihr Bedürfnis nach ausreichend langen Fresszeiten, genügend Raufutter und ausreichend frischem Wasser nicht befriedigen können. Oft sehe ich Pferdeweiden ohne Wassertrog oder Wasserwagen. Die Pferde trinken also nur, wenn sie in der Box sind. Dann oft so viel und so hastig, dass Probleme des Verdauungsapparates auftreten. Steht z. B. nur ein Wassertrog auf der Weide, so erwischen die rangniedrigen Pferde zu wenig Wasser, und auch hier entstehen wieder Verdauungsprobleme, ganz abgesehen von dem Durst, der die Pferde natürlich auch leiden lässt.
Futterneid entsteht natürlich auch, wenn es nur wenige Futterstellen für zu viele Pferde gibt. Hier habe ich dann oft Verletzungen gesehen, die einfach vom Kampf um die Ressource Futter entstehen. Aber auch körperliche Probleme können auftreten, wenn z.B. ein Raufuttermangel vorliegt. Angefangen von Koliken über Zahnprobleme durch geringere Kautätigkeit und Speichelproduktion, Kreuzverschlag oder Hufrehe (ja, Hufrehe kann auch durch Unterversorgung entstehen!). Ein Mangel an Spurenelementen kann von Muskelkrämpfen über ein angegriffenes Immunsystem, Wachstumsstörungen, Leberschäden bis hin zu Fruchtbarkeitsstörungen führen. Also auch hier gilt wieder: das Blutbild gibt Aufschluss darüber, was dem Pferd fehlt! Bei der Fütterung sollten wir auch dringend darauf achten, dass das Pferd in Ruhe fressen kann. Ein Pferd, das sich in seiner Umgebung oder in der Herde noch nicht eingelebt hat, wird nicht in Ruhe fressen können und sich somit auch nicht gut entwickeln.
Und bei dem ganzen Fokus auf wissenschaftliche Analysen zum Nährstoffbedarf wird meiner Meinung nach viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf gelegt: Fühlt ein Pferd sich nicht wohl, egal ob mit dem Futterplan oder dem gesamten Lebensstil, wird dies negative Auswirkungen auf den Appetit und somit auf sein Verhalten und seine körperliche Verfassung haben. Übrigens habe ich auch festgestellt, dass eine Erhöhung des Raufutteranteils und eine im Gegenzug verminderte Kraftfuttergabe eine wirksame Maßnahme sein kann, um Problemverhalten wie Bocken und Durchgehen vorzubeugen.
Wie kann sich der Mensch dieses Verhalten zu Nutze machen?
Eine falsche Fütterung (wie bereits beschrieben) führt meist zu Problemen im Verhalten und dann natürlich auch zu Problemen im Umgang oder beim Reiten. Je mehr ich als Reiter über das Fressverhalten und die Bedürfnisse meines Pferdes in Sachen Ernährung weiß, desto mehr kann ich unerwünschtes Verhalten (Anknabbern von Holzwänden) oder Verhaltensauffälligkeiten (Bocken, Durchgehen) vorbeugen oder gar abstellen. Bekomme ich ein neues Pferd zum Training, prüfe ich immer als Teil meiner Anamnese ganz genau, wie das Pferd ernährt wird. Dies gibt schon sehr viel Aufschluss über sein Verhalten.
Eine Gabe von Leckerlis aus der Hand als Lob lehne ich in meiner Arbeit strikt ab. Dies hat auch zwei Gründe. Im Gegensatz zum Hund muss das Pferd sein Futter nicht jagen. Gras stand den Pferden schon immer zur freien Verfügung. Sie kannten die besten Futterplätze und mussten nie für ihr Futter kämpfen oder arbeiten, es war einfach da. Aus diesem Grund ist Futterlob für ein Pferd kein Lob und kann auch so nicht von ihm erkannt werden. Natürlich frisst es das Leckerli gerne, es schmeckt ja gut, kein Thema. Doch ist ein Pferd ein Pferd und kein Hund oder kleines Kind. Ich käme nie auf die Idee, einem Pferd Futter aus der Hand zu geben und es so zu belohnen. Wenn wir hier ein gutmütiges, sanftes und freundliches Pferd haben und Sie diesem Pferd immer wieder ein Leckerli aus der Hand geben, haben Sie womöglich auch keine Probleme damit. Haben wir aber ein Pferd mit einem größeren Dominanzanspruch, z.B. einem (Jung-)Hengst, rate ich meinen Kunden dringend davon ab. Das Pferd wird es nicht verstehen, warum es ein Leckerli zur Begrüßung oder als Lohn für das Stehenbleiben beim Aufsitzen bekommt. Es wird es dann penetrant einfordern, wenn Sie einmal kein Leckerli zur Hand haben, weil es ja in einer gewissen Erwartungshaltung ist. Zumal haben es Hengste ja schon schwer, in der Arbeit mit uns Menschen ihren spielerischen Beißreiz zu unterdrücken. Mit der Gabe von Futter aus der Hand fordern Sie es ja gerade dazu auf, zu schnappen oder zu drängeln. Dann müssen Sie das Pferd wieder maßregeln oder gar beschimpfen für etwas, was Sie ihm selbst antrainiert haben. Ich ecke mit dieser Einstellung regelmäßig an, das gebe ich gern zu. Meine Fragen an diese Reiter sind dann immer: Warum arbeiten Sie mit Futterlob? Möchten Sie sehen, wie Ihr Pferd sich freut, wenn Sie in den Stall kommen? Es freut sich auf den Apfel – nicht auf Sie. Haben Sie das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen oder etwas gut machen zu müssen, wenn Sie es reiten? Ich sehe oft grobe Reiter, die ihrem Pferd nach dem Reiten ein Leckerli zuschieben. Doch so funktioniert das nicht. Ihr Pferd möchte mit Liebe und Respekt behandelt werden. Wenn es etwas gut gemacht hat, loben Sie es ausgiebig mit Worten (die übrigens ruhig vor Emotion sprudeln dürfen!), gönnen Sie ihm eine Pause, kraulen und berühren Sie es. Unsere Pferde mögen körperliche Nähe und Berührung von IHREM Menschen.