Ingrid Klimke muss man nicht mehr vorstellen: Sie ist zweifache Olympiasiegerin, zweifache Welt- und mittlerweile sechsfache Europameisterin in der Vielseitigkeit. Zwei der EM-Titel holte sie im Einzel 2017 und 2019. Ohne Zweifel ist Klimke eine der Koryphäen, wenn es um die Ausbildung und das Training von Pferden geht, und trägt nicht umsonst den offiziellen Titel „Reitmeisterin“.

Viele Konzepte dessen, was ihre Arbeit heute ausmacht, erarbeitete sie bereits in jungen Jahren gemeinsam mit ihrem Vater, Dr. Reiner Klimke, dem sechsfachen Olympiasieger in der Dressur. Ingrid Klimke hat auf unterschiedlichste Art und Weise das Erbe ihres Vaters weitergeführt, so auch im Falle des Trainings mit Cavaletti. Denn die Arbeit mit den Bodenstangen lag schon ihrem Vater sehr am Herzen – damals, als man über derartige Ausbildungsmethoden noch deutlich weniger nachdachte und manch einer sie auch belächelte. Heute stößt Ingrid Klimke auf offene Ohren, wenn sie erklärt, dass die Arbeit über Stangen auch für Dressurpferde eine hervorragende Abwechslung zum Lektionenreiten ist.

Kurzer Ritt durch die Geschichte

Cavaletti an sich gibt es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie der Name verrät, handelt es sich um eine italienische Erfindung. „Cavaletti“ bedeutet so viel wie „Bock, Gestell, Ständer“. Benutzt hat die Bodenricks erstmals der legendäre Springsport-Pionier Federico Caprilli (1868–1907). Grundsätzlich ist ein Cavaletti ein kleines Hindernis aus einer etwa acht Zentimeter dicken und drei Meter langen Stange aus Holz oder Kunststoff mit an den Enden befestigten Haltern. Durch deren Bauart (oft Kreuze oder Kunststoff- blöcke) ist es möglich, durch einfaches Drehen unterschiedliche Höhen zwischen 15 und 50 Zentimetern einzustellen. Wichtig sind beim Training mit Cavaletti die Abstände zwischen den Stangen. Im Schritt liegen diese bei 80 bis 90 Zentimetern, im Trab sind es 1,20 bis 1,40 Meter und im Galopp etwa drei Meter.

Familie Klimke als Vorreiter

In der modernen Geschichte des Cavaletti-Trainings ist die Familie Klimke Vorreiter und Vorbild. „Für uns ist die Arbeit mit Cavaletti ein fester Bestandteil des Trainingsprogrammes, das wir so vielfältig wie möglich ausrichten“, erklärt Ingrid Klimke. „Ich finde, dass Cavaletti-Training für jede Disziplin und Pferde jeden Alters sinnvoll und wichtig ist. Man kann sowohl mit jungen Pferden an der Longe arbeiten als auch eine sinnvolle Beschäftigung für ältere Pferde finden.“ Ingrid Klimke erinnert sich, dass schon bei ihrem Vater immer Cavaletti auf dem Reitplatz standen, damit er diese jederzeit in sein Trainingsprogramm einbauen konnte. Sie betont, dass Cavaletti-Arbeit mit den klassischen Grundsätzen der Reiterei in Einklang stehe. Besonders gerne nutzt sie selbst Cavaletti im Wintertraining: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie eine tolle Möglichkeit sind, um die Kondition und Beweglichkeit meiner Geländepferde zu erhalten. Bei meinen Dressurpferden nutze ich sie in der kalten Jahreszeit, um weiter Kraft aufzubauen.“

An der Longe

Es gibt unterschiedlichste Möglichkeiten, Cavaletti ins tägliche Training einzubauen. Eine davon ist die Arbeit an der Longe, die besonders auch für Jungpferde geeignet ist. Beim Traben über Cavaletti sollte man darauf achten, dass das Pferd ruhig, aber fleißig vorwärtsgeht und dabei den Hals fallen lässt. „Das Cavaletti-Training an der Longe lockert sehr schön den Rücken“, beschreibt Klimke. „Das Pferd ist dabei frei in seinen Bewegungen, denn es trägt ja kein Reitergewicht. Es muss bei dieser Arbeit immer mitdenken und auf die Einwirkungen der Hand des Longenführers sowie auf die treibenden Hilfen mit Unterstützung einer ausreichend langen Longierpeitsche reagieren.“

„Mitdenken und Mitarbeit, das ist bei der Cavaletti-Arbeit ganz wichtig“, so Klimke. Das Pferd werde durch das Laufen über die Stangen stets dazu animiert, aufmerksam bei der Sache zu sein.

Doch nicht nur das Pferd profitiert von dieser Art des Trainings – auch der Reiter wird nach einiger Zeit Fortschritte an sich bemerken. „Als Reiter lerne ich, mich zu konzentrieren, denn ich muss ja das richtige Tempo und den Anreitweg wählen und das Pferd gleichzeitig sicher an den Hilfen haben“, erklärt die Spitzenreiterin. „Das sind alles Dinge, die einen Dressurreiter wie auch Reiter aller anderen Disziplinen enorm weiterbringen.“ Besonders mit jungen Pferden, aber auch mit solchen Pferden, die noch keine Erfahrung mit der Cavaletti-Arbeit haben, sollte man zunächst damit beginnen, auf gerader Linie zu reiten. Anfangs könne auch ein Führpferd nützlich sein, rät Ingrid Klimke. Am einfachsten ist natürlich der Ritt über lediglich ein Cavaletti, dann kommen zwei, drei und schließlich vier hinzu. Was zunächst einfach klingt, da die Stangen ja „nur in Bodennähe sind“, stellt bei vier Stangen eine ganz schön knifflige Aufgabe dar. „Bei vier Cavaletti benötigt man einen raumgreifenden, fleißigen und taktmäßigen Schritt“, betont Klimke. „Ein Zwischentritt ist eine gute Lösung, um dem Pferd die Möglichkeit zu geben, in der Mitte etwas auszugleichen.“ Übungen zum Reiten über Cavaletti gibt es so zahlreich wie Sand am Meer. Auch Ingrid Klimkes Vater schrieb darüber, 2018 brachte sie das Buch in Neuauflage beim Kosmos Verlag heraus. „Vor allem mit der Variation der Gangarten kann man viel erreichen und ideal Übergänge trainieren“, erklärt sie. Immer wieder nutzt sie die Möglichkeit, im Rahmen des Cavaletti-Trainings die Gangart zu wechseln: „Ich reite im Trab bis kurz vor die erste Stange und gehe dann im Schritt über die Cavaletti. Fortgeschrittene können übrigens probieren, über die Cavaletti im versammelten Schritt zu gehen und vor bzw. nach den Stangen eine halbe Schrittpirouette einzubauen. Das ist ideal für Dressurpferde und auch, um die Dressur für die Vielseitigkeitsprüfung zu trainieren.“ Auch ihren Grand-Prix-Pferden macht die Arbeit damit Spaß und fördert sie in ihren Bewegungen, wie Ingrid Klimke bereits mit bekannten Vertretern wie Damon Hill, Liostro, Dresden Mann oder neuerdings Franziskus bewies.

Die gebogene Linie

Noch etwas anspruchsvoller wird es, wenn Cavaletti auf einer gebogenen Linie angeordnet werden. Sie tragen enorm dazu bei, Pferde besser zu gymnastizieren. „Vor allen Dingen sind die Übungen auf der gebogenen Linie gut für die Geschmeidigkeit der inneren Rippenpartie, die Arbeit an der Längsbiegung sowie das Untertreten des inneren Hinterbeines“, schildert Ingrid Klimke.

Das Training am Cavaletti ist besonders für Pferde geeignet, die nicht besonders hoch und fleißig abfußen. Sie werden durch die Stangen dazu auf ganz spielerische und natürliche Art und Weise animiert. „In der Lösungsphase trabe ich immer über die Cavaletti und lasse dabei die Zügel aus der Hand kauen“, erklärt Klimke. „In der Arbeitsphase können Übergänge und Aussitzen trainiert werden. Auch der Schritt vom Trab zum Galopp kann auf gebogener Linie gut eingebaut werden. Im Trab geht es über die Cavaletti und danach eine halbe Zirkelrunde im Galopp, bevor ich erneut über die Stangen trabe.“ Eine Übung für Fortgeschrittene ist die „Acht auf dem Zirkel“, wie Ingrid Klimke beschreibt. „Zweimal vier Cavaletti auf dem Zirkel bewirken Wunder in Sachen Geschmeidigkeit, Verbesserung von Gerade- richten, Stellen und Biegung des Pferdes sowie hinsichtlich der Durchlässigkeit. Der Reiter trabt in meiner Übung auf zwei gleich großen Volten und wechselt nach jeder Volte die Hand. Ziel ist, dass beide Zirkelhälften exakt gleich groß geritten werden und das Pferd sich gleich gut stellen und biegen lässt.“

Im Galopp

Begonnen werden sollte die Arbeit mit Cavaletti bei korrekter Ausführung immer im Schritt, die schnelleren Gangarten überfordern unerfahrene Reiter und Pferde. „Galopp-Cavaletti auf dem Zirkel gymnastizieren hervorragend das innere Hinterbein, die Rippenpartien und den Rücken. Allerdings sind Pausen sehr wichtig, deshalb setze ich auf kurze Reprisen“, erklärt Klimke. „Besonders anspruchsvoll ist die Kombination von vier Trab-Cavaletti auf der einen und vier Galopp-Cavaletti auf der anderen Seite des Zirkels. Das ist eine Übung für Cavaletti-Profis, aber die gesamte Muskulatur, die Durchlässigkeit und alle wichtigen Punkte der Cavaletti-Arbeit werden hier trainiert. Die Galopp-Cavaletti müssen außen mindestens drei, innen zwei Meter Abstand haben.“ Zwei Pylonen zwischen den beiden Hälften des Zirkels markieren den Punkt für die Übergänge zwischen den beiden Gangarten. „Diese Punkte halte ich auch exakt ein“, so Klimke. „Wichtig ist bei dieser Übung, stets vorausschauend zu reiten. Als Reiter habe ich meinen Blick immer schon rechtzeitig beim nächsten Block. Wenn man diese Übung mit einem erfahrenen Pferd richtig macht, ist sie perfektes Krafttraining.“

Die vielen Vorzüge der Cavaletti-Arbeit kann Klimke gar nicht oft genug betonen: „Takt und Gleichmaß der Bewegungen werden ebenso wie die Trittsicherheit und Geschmeidigkeit, die Konzentration, die Dehnung, Vorwärts-Abwärts und der Ausdruck in den Grundgangarten gefördert. Außerdem wird die Muskulatur gekräftigt, die Muskeln werden gelockert, und die Kondition verbessert sich. Zudem trägt die Arbeit auch zur Konzentration des Pferdes und der Motivation zum Mitdenken bei.“

Text: Alexandra Koch          Foto: Stefan Lafrentz

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