Interview: Nicole Audrit Foto: www.slawik.com
Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass das Kauen eines Pferdes beim Reiten zwangsläufig ein Zeichen für Entspannung ist. Von Entspannung über Stress bis zur Unterwerfung – Abkauen kann unterschiedliche Ursachen haben. Die studierte Pferdepsychologin Fabienne Lemke (www.pferdedenker.de) klärt, was es mit dem Abkauen beim Pferd wirklich auf sich hat.
In welchen Situationen kauen Pferde ab?
Das Abkauen – oft auch als Leerkauen bezeichnet – ist eine im Reitsport erwünschte Verhaltensweise, da sich durch die Aktivierung der am Kauvorgang beteiligten Muskeln auch das Genick lockert und das Pferd sich entspannt. Generell beobachtet man das Leerkauen meist in Situationen, in denen Spannung abgebaut wird und Entspannung eintritt. Häufig kauen Pferde beispielsweise unter dem Reiter ab, wenn sie eine vom Menschen gestellte Aufgabe verstanden und korrekt ausgeführt haben. Insbesondere wenn Pferde über eine Anforderung zunächst nachdenken mussten – und eventuell mehrere Anläufe benötigten –, und sie schließlich verstanden haben, beobachtet man häufig das Abkauen. Es ist allerdings wichtig zu verstehen, dass es nicht bedeutet, dass ein Pferd eine Übung nicht verstanden hat, nur weil es nicht oder nur sehr kurz abkaut. Generell ist dies eine sehr individuelle Verhaltensweise und nicht pauschalisierbar – manche Pferde zeigen häufiger die Kaubewegung als andere.
Obwohl das Abkauen also eigentlich eine entspannende Wirkung auf das Pferd hat, beobachtet man auch hin und wieder ein sehr hektisches Kauen. Was hat es damit auf sich?
Kaut ein Pferd entspannt ab, so ist der Kopf meist minimal gesenkt, die Lippen sind leicht geöffnet und die Zähne und/oder Zunge sichtbar, zudem ist eine horizontale Kaubewegung erkennbar. Im Reitsport ist diese Form des Kauens erwünscht und wird als Zeichen der Losgelassenheit gewertet. Aus diesem Grund gibt es auch die Lektion „Zügel aus der Hand kauen lassen“, die zur Überprüfung der inneren und äußeren Losgelassenheit dient und auch bei einigen Prüfungen auf dem Turnier abgefragt wird. Allerdings kann Kauen – insbesondere in vermehrter Ausprägung und ohne die Entspannungshaltung – auch eine Reaktion des Pferdes auf Stress sein. In solchen Fällen spricht man von nervösem Kauen, das meist bei Pferden zu sehen ist, die in einer bestimmten Situation Angst haben, überfordert sind oder Schmerzen haben. Bei der nervösen Art des Kauens wird oftmals der Unterkiefer stark auf den Oberkiefer gedrückt, sodass das Aufeinanderschlagen der Zähne zu hören ist. Manchmal „klappern“ Pferde dann auch mit Gebiss. Durch das nervöse Kauen versucht das Pferd, den negativen Stress abzubauen. Auslöser können unpassendes Equipment sowie Stress durch konditionierte Druck- und/oder Zwangsmaßnahmen im Training sein. Daraus kann sich auch eine Zwangsstörung manifestieren, für die es sehr viel Geduld und Können braucht, um sie dem Pferd wieder abzugewöhnen. Wird beispielsweise ein Pferd über einen längeren Zeitraum mit einem unpassenden Gebiss und einer unruhigen Reiterhand geritten und empfindet dadurch Schmerzen und wird unruhig, so kann sich dies in nervösem Kauen äußern. Wird das Pferd später mit passendem Gebiss von einem Reiter mit ruhiger Hand geritten, so kann es trotzdem zu dem nervösen Kauen kommen, da das Pferd das Reiten automatisch mit Zwang und Schmerzen in Verbindung bringt.
Was bedeutet es, wenn ein Fohlen einem Artgenossen gegenüber Leerkauen zeigt?
Auch abseits vom Reitsport beobachtet man in der Interaktion zwischen Pferden immer mal wieder das Leerkauen, das in diesem Zusammenhang ein beschwichtigendes Kauen ist. Insbesondere Fohlen und Jungpferde zeigen dieses Verhalten gegenüber älteren und/oder ranghöheren Pferden zur Beschwichtigung und um die eigene Unterlegenheit zu demonstrieren. Bei diesem Verhalten kauen die Pferde mit offenem Maul und nach vorne gestrecktem Kopf, insgesamt ist die Körperhaltung eher devot. In Stresssituationen zeigen manche Pferde dieses Verhalten allerdings auch dem Menschen gegenüber, beispielsweise wenn dieser mit zu viel Druck oder Hektik versucht, mit dem Pferd zu interagieren oder zu arbeiten. Hört der Druck dann auf, so zeigt das Pferd auch das Abkauen, allerdings nicht in einer Entspannungshaltung, sondern vielmehr als Zeichen der Beschwichtigung.
Es ist wichtig, zwischen entspanntem Kauen, das auf Nachdenken hindeutet, und einem beschwichtigenden, unentspannten Kauen zu unterscheiden.