Interview: Nicole Audrit Foto: www.slawik.com
Die Akademische Reitkunst orientiert sich an den Lehren verschiedener alter Reitmeister aus früheren Jahrhunderten. Dies klingt zunächst einmal etwas elitär, ist jedoch auch für nahezu jeden Freizeitreiter umsetzbar. Die Reitmeisterin der Akademischen Reitkunst Sabine Oettel (www.akademische-reitkunst.at) erklärt, was es mit dieser Reitweise auf sich hat.
Was ist Akademische Reitkunst?
Der Begriff „Akademische Reitkunst“ setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Akademisch und (Reit-)Kunst. „Akademisch“, da die Reitweise auf gut recherchiertem und praktischem Fachwissen beruht. Und „Kunst“ steht generell für Schönheit und bedarf Zeit und Geduld. Generell orientiert sich die Akademische Reitkunst an den Lehren alter Meister, beispielsweise an Egon von Neindorf und Gustav Steinbrecht. Gleichzeitig hat Bent Branderup, der Gründer der Akademischen Reitkunst, neue theoretische Erkenntnisse in Bezug auf die Biomechanik und das Pferde verhalten in das Trainingsmodell einfließen lassen. Aus dem Wissen der alten Reitmeister und den Aspekten neuer, wissenschaftlicher Studien entstand so die Akademische Reitkunst. Diese ist ein systematischer Ausbildungsweg für Pferd und Mensch. Dabei spielt die Harmonie eine sehr wichtige Rolle: Der Mensch soll auf die Individualität seines Pferdes eingehen – sowohl in Bezug auf die körperlichen Begebenheiten als auch den mentalen Zustand –, und die Arbeit darauf so abstimmen, dass ein harmonischer Ausbildungsweg entsteht.
Welche Aspekte spielen neben Harmonie noch eine wichtige Rolle in der Akademischen Reitkunst?
Ursprünglich war der Grundsatz, den man in der Ritterschaft von Bent Branderup hatte, sich ein Gebrauchspferd auszubilden. Dies hat sich aber mit der Zeit etwas geändert, sodass nun folgender Leitsatz von Bent Branderup viel Gewicht hat: „Die Dressur ist für das Pferd da, nicht das Pferd für die Dressur!“ Jedes Pferd soll auf die Art und Weise gymnastiziert werden, die für seine körperlichen und geistigen Gegebenheiten passend ist. Dies bedeutet, dass man sich darüber Gedanken machen muss, wo bei dem jeweiligen Pferd körperliche Defizite bestehen, und welche Übungen dem Pferd diesbezüglich guttun könnten. In der Akademischen Reitkunst sollen alle Übungen einen positiven Effekt auf und für das Pferd haben. Hat eine Übung keinen positiven Effekt auf das jeweilige Pferd in der aktuellen Situation, so wird diese erst mal weggelassen. Also wird der Ausbildungs- und Trainingsaufbau sehr stark an das individuelle Pferd abgestimmt. Dabei muss noch mal betont werden, dass nicht nur die körperlichen Aspekte beachtet werden, sondern auch stark auf den seelischen Zustand des Pferdes eingegangen wird. Ziel ist, ein gesundes und gut ausbalanciertes Pferd zu erhalten, das motiviert mitarbeitet.
Worin unterscheidet sich die Akademische Reitkunst von anderen Reitweisen?
Ein sehr gravierender Unterschied zu anderen Reitweisen ist, dass in der Akademischen Reitkunst Hilfszügel jeder Art resolut abgelehnt werden – sowohl bei der Arbeit am Boden als auch im Sattel. Zudem spielt der Faktor Zeit im Ausbildungsweg der Akademischen Reitkunst eine sehr untergeordnete Rolle. Es gibt keinen Wettbewerbsgedanken wie in anderen Reitweisen, sodass sich jeder Reiter die Zeit für die Ausbildung nehmen kann, die das Pferd benötigt. Es gibt keinen Druck, bis zu welchem Alter ein Pferd beispielsweise Seitengänge können muss. Auch beginnen die meisten Reiter der Akademischen Reitkunst deutlich später mit der Ausbildung ihres Pferdes, als es in anderen Sparten der Fall ist. Viele Pferde werden erst mit vier oder fünf Jahren angeritten. Allerdings ist der Beginn der Ausbildung erneut stark vom individuellen Pferd und seiner körperlichen und geistigen Reife abhängig. Ein weiterer markanter Unterschied speziell zur FN-Reitweise ist, dass die Akademische Reitkunst nicht darauf ausgelegt ist, die Schubkraft auszubilden und auch nicht darauf abzielt, möglichst spektakuläre Bewegungen hervorzurufen. Die Akademische Reitkunst legt vielmehr Wert darauf, im Rahmen der natürlichen Fähigkeiten des Pferdes zu bleiben, und ist insgesamt stärker auf die Versammlung ausgerichtet. Abschließend ist zu sagen, dass Unterschiede nicht zwangsläufig schlecht sind. Das Ziel vieler Reitweisen ist und bleibt dasselbe: ein ausbalanciertes, gesundes und motiviertes Reitpferd. Und auch die Reitlehre ähnelt sich in vielen Punkten, lediglich die Interpretation ist von Person zu Person verschieden.