Text: Nicole Audrit Foto: www.Slawik.com
Jedes Pferd hat aufgrund seines In- und Exterieurs spezielle Bedürfnisse – sowohl in Bezug auf die Ausbildung als auch das Training. Es liegt in der Verantwortung des Reiters, diesen Anforderungen gerecht zu werden und das Training dementsprechend zu gestalten.
Bei Menschen suggerieren Models ein vermeintliches körperliches Ideal – ob dieses tatsächlich der Realität entspricht, ist fraglich. Auch bei Pferden gibt es einen idealen Körperbau. Dieser zielt allerdings nicht nur auf das ästhetische Erscheinungsbild ab, sondern hat Auswirkungen auf die Biomechanik und somit das Training. Die Anatomie des Pferdes entscheidet also nicht nur über ein harmonisches Äußeres, sondern gibt zum Teil Grenzen hinsichtlich der Ausbildungsmöglichkeiten vor: So fällt die Beizäumung beispielsweise einem Pferd mit engen Ganaschen deutlich schwerer als einem Tier mit idealen Ganaschen. Die anatomischen Gegebenheiten bestimmen jedoch nicht ausschließlich die Qualität und Leistungsfähigkeit eines Pferdes. Es liegt vielmehr in der Verantwortung des Reiters, sein Pferd angepasst an dessen Anatomie auszubilden und zu trainieren. Indem auf diese Weise Rücksicht auf Exterieurmängel genommen wird, können diese durch passendes Training kompensiert und im besten Fall sogar verbessert werden.
Das Idealbild der Reitlehre
Für die meisten Reiter ist ihr Pferd das schönste und talentierteste Tier im ganzen Stall. Für eine langfristige sinnvolle Gymnastizierung, die der Gesunderhaltung des Pferdes dient, muss der Reiter allerdings einen genaueren Blick auf das Exterieur seines Tieres werfen. Nur wenn Abweichungen vom idealen Körperbau erkannt werden, kann das Training dementsprechend angepasst werden. Die Beurteilung des Exterieurs ist auch wichtig, wenn spezielle Disziplin geht. Sie dient der Einschätzung möglicher Stärken und Schwächen – bedingt durch seinen Körperbau. Auch das Interieur des Pferdes – also sein Charakter und seine Persönlichkeit – muss hier miteinbezogen werden. „Auch die traditionelle Reitlehre orientiert sich am Idealbild eines Reitpferdes. Dieses soll unter anderem folgende Eigenschaften haben: gute Ganaschenfreiheit, mittellange Halsung, genügend langer Rücken und leicht geneigte Kruppe“, erklärt Christine Hlauscheck, eine erfahrene Ausbilderin. „Das Idealbild eines Pferdes hat nur in zweiter Linie ästhetische Gründe, der Hauptgrund liegt in einem ökonomischen Bewegungsablauf, der durch gut proportionierte Körperbereiche entsteht. Nur wenn die Vor-, Mittel- und Hinterhand im Gleichgewicht zueinander stehen, steht einer optimalen Bewegungsentfaltung nichts im Wege.“ Auf den Körperbau des Pferdes kann nur äußerst bedingt Einfluss genommen werden– nämlich lediglich in Bezug auf die Bemuskelung und minimal die Stellung der Gliedmaßen durch die Hufbearbeitung. Damit wird klar, warum seriöse Züchter bei der Wahl der Elterntiere sehr viel Wert auf das Exterieur legen. Schließlich vererben diese nicht nur die Qualitäten, sondern auch die Schwächen. Dem stimmt auch Christine Hlauscheck zu: „Mit Pferden, die deutliche anatomische Defizite haben, sollte nicht gezüchtet werden. Schließlich wird die Nachzucht in den meisten Fällen irgendwann einmal ein Reitpferd, das dann möglicherweise zuchtbedingte anatomische Defizite hat.“
Zwischen Lusitano und Oldenburger
Läuft man durch die Stallgassen der meisten Ställe, so begegnen einem Pferde vieler unterschiedlicher Rassen: Vom deutschen Warmblut über verschiedene Robustpferderassen wie Haflinger und Fjordpferde bis hin zu den spanischen und portugiesischen Rassevertretern. Stellt man all diese Pferde nebeneinander, werden die Unterschiede im Exterieur – und damit die Herausforderungen an den Reiter – offensichtlich. Robustpferde haben häufig eine eher enge Ganasche, Lusitanos haben oft einen kurzen Rücken und somit eine problematische Sattellage, und Friesen haben allzu oft einen hohen Halsansatz – diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Viele dieser aufgezählten Merkmale werden meist zu den Exterieurmängeln gezählt. Expertin Christine Hlauscheck findet diese Bezeichnung allerdings nicht ganz optimal: „Jedes Pferd ist ein Individuum, auf dessen ganz eigene körperliche Voraussetzungen man bei der Ausbildung und dem Training eingehen muss. Abweichungen vom körperlichen Idealbild sehe ich dabei weniger als Beeinträchtigung, sondern vielmehr als Herausforderung für den Reiter, den Trainer und/oder den Ausbilder. Daher bevorzuge ich den Begriff ‚anatomische Besonderheit‘, da das Wort ‚Mangel‘ meines Erachtens immer einen leicht negativen Beigeschmack hat. Zudem sind einige dieser Abweichungen rassetypisch. Es liegt in der Verantwortung des Reiters, das Training individuell und nicht nach Schema F zu gestalten.“
Herausforderungen annehmen, Verantwortung übernehmen
Jeder Reiter sollte sich nicht nur grundlegend in der Reitlehre, sondern auch in den Bereichen Biomechanik und Anatomie stetig weiterbilden. „Für die Ausbildung eines anatomisch korrekt gebauten Pferdes wird bereits umfangreiches Wissen und ein großer Erfahrungsschatz benötigt. Tiere mit anatomischen Besonderheiten sind eine noch größere Herausforderung“, so die Expertin. „Der Pferdekörper ist ein ausgeklügeltes System, bei dem sich anatomische Schwächen auf den gesamten Bewegungsablauf auswirken können.“ Wird dann kein Gegengewicht mit passendem Training geschaffen, verursacht die anatomische Schwäche nahezu zwangsläufig gesundheitliche Schäden. Die einzelnen Stufen der Ausbildungsskala – Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichtung und Versammlung – sind für ein Pferd, dessen Exterieur dem Ideal entspricht beziehungsweise sehr nahekommt – einfacher zu erreichen als für ein Pferd mit anatomischen Besonderheiten. „Diese beeinflussen den Ausbildungsweg – und machen ihn häufig etwas anspruchsvoller“, so Christine Hlauscheck. „Beispielsweise muss man wissen, dass das korrekt ausgeführte Rückwärtsrichten einem Pferd mit gerader Kruppe sehr schwerfällt. Meist kommt man in diesem Fall mit der standardisierten Ausbildungsmethode nicht weiter, sondern muss sich alternative Wege suchen. Versucht man, dem Pferd die Lektion mit Zwang beizubringen, wird es diese – je nach Charakter – eventuell irgendwie ausführen. Allerdings meist eher schlecht als recht und in einer Kompensationshaltung, durch die andere anatomische Strukturen be- oder überlastet werden.“ Ein Ziel in der Ausbildung von Reitpferden sei die Schwerpunktverlagerung und die Lastaufnahme der Hinterhand, so Christine Hlauscheck. „Pferde sind von Natur aus etwas vorhandlastig, sodass mehr Gewicht auf den Strukturen der Vorhand lastet. Stellen Sie sich nun ein Pferd vor, dessen Rückenlinie zur Kruppe hin stark ansteigt – welches also hinten deutlich überbaut ist. Soll dieses Pferd nun den Schwerpunkt nach hinten verlagern und mit der Hinterhand mehr Last aufnehmen, ist dies natürlich m.glich, allerdings aufgrund des Exterieurs deutlich erschwert. Bei einem solchen Fall muss man das Training besonders auf diese anatomische Besonderheit aufbauen, da ansonsten über kurz oder lang gesundheitliche Probleme im Bereich der Vorhand drohen – beispielsweise in Form von Sehnenproblemen.“
…den kompletten Artikel – inklusive Trainingstipps für Pferde mit anatomischen Besonderheiten – lesen Sie in der aktuellen Ausgabe. Dort erfahren Sie, welche Übungen bei Pferden mit engen Ganaschen, tief angesetzten Hälsen und weiteren Exterieurmängeln empfehlenswert sind.
Unsere Expertin: Christine Hlauscheck beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Aus- und Weiterbildung von Pferden und ist Expertin in den Bereichen Anatomie und Biomechanik. Sie legt den Fokus auf eine artgerechte und pferdefreundliche Ausbildung. Ihr Wissen und ihren Erfahrungsschatz vermittelt sie auf bundesweiten Lehrgängen. www.bewegungs-freiheit.de