Text & Foto: Tina Neumann
Im Jahr 2013 hieß es für mich das erste Mal, am anderen Ende der Welt anzukommen, Chile für ein knappes Jahr meine Heimat zu nennen und die wunderbare Kultur und Mentalität dieses südamerikanischen Landes kennenzulernen. Fünf Jahre nach meiner Volunteerzeit bin ich nun wieder zurück in Chile und habe in der Zwischenzeit mehr Zeit auf der Südhalbkugel als anderswo verbracht. Dieses Land ist meine Heimat geworden: Die Menschen haben ein solch großes Herz, und man kann in der vielfältigen Natur Chiles ein verrücktes Outdoor-Abenteuer nach dem anderen erleben. Von der Atacama-Wüste im Norden bis zum rauen Patagonien mit Gletscherriesen erstreckt sich das Land etwa 5.000 km entlang der Pazifikküste und der Anden.
„The Search for Freedom“ – die Suche nach der großen Freiheit hat mich hierher gebracht, und ich habe sie auf dem Rücken der großen Vierbeiner gefunden: Jedes Reiterherz wird in Chile höherschlagen! Chile ist das Land der Huasos, der chilenischen Cowboys, die voller Stolz ihre Tradition und die Kultur des Rodeos bewahren. Das Rodeo kommt ursprünglich von dem Viehtrieb über die Anden, bei dem die Pferde die Rinder über schroffe Bergketten treiben mussten. Seit vielen Jahren ist das Rodeo ein anerkannter Nationalsport in Chile. Für mich war es eine wunderbare Erfahrung, von den Huasos zu lernen, die Schule des Rodeos zu verstehen und schlussendlich das Pferd im Galopp nur mit dem Gewicht zu steuern.
Das chilenische Criollo ist ein Bild von einem Pferd: Es hat sowohl mit dem chilenischen Sattel als auch ohne Sattel wunderbar weiche Gänge und ist sehr bequem zu sitzen. Handgeflochtene Zügel, Trensen und Lassos lassen das Herzblut und die Leidenschaft der Chilenen für ihre Vierbeiner erahnen. Das chilenische Pferd ist außerdem ein toller Begleiter in allen Geländegegebenheiten: Zwischen meterhohen Kakteen auf schmalen, steinigen Pfaden, durch trockene Halbwüstengebiete oder in den Anden mit Blick auf Chiles Hauptstadt Santiago kann man sich als Reiter auf die Trittsicherheit und die Ausdauer der Pferde verlassen. Es ist eine einzigartige Erfahrung, wenn man in den Sattel eines chilenischen Criollos steigt.
Das wohl größte Geschenk für mein Reiterherz war der Moment, mit dem Pferd im seichten Wasser am Pazifischen Ozean entlangzugaloppieren. Umso wunderbarer wird dieses Erlebnis mit einem ganz besonderen Pferd, zu dem man eine Bindung hat. Für mich war es eine Stute, die ich vor dem Sommer aufgepäppelt hatte, da sie aus schlechter Haltung kam. Und mit jedem Tag hat sie mir mehr Vertrauen geschenkt. Die Stute war zu Beginn sehr dünn und krank, doch sie entwickelte sich zu einem perfekten Begleiter, mit dem ich viel erlebt habe. Sie hat einen großen Platz in meinem Herzen eingenommen und wird ihn dort immer behalten. Lange Zeit hatte sie keinen Namen, irgendwann hieß sie dann „La yegua de la Tina“ – übersetzt bedeutet dies: „Die Stute von Tina“. Bis ich dann endlich einen Namen für sie gefunden habe: Lluvia, dies bedeutet Regen. An einem Tag wurde ich gefragt, ob ich den Regen vermisse, weil es in dieser Region in Chile im Sommer so gut wie nie regnet und in Deutschland Regen bekanntlich normal ist. In diesem Moment ist mir bewusst geworden, dass ich das Gefühl des Regens tatsächlich vermisse und dass, wenn meine Zeit in Pelluhue zu Ende geht, ich dieses Pferd genauso und wahrscheinlich noch mehr vermissen werde. Auf dem Rücken von Lluvia in der Abendsonne am Strand entlangzureiten, ihren Atem zu hören und ihre Freude am Laufen zu spüren – dieses Gefühl lässt mir die Tränen in die Augen steigen, besonders wenn ich daran zurückdenke, wie schlecht es ihr am Anfang ging. Ich habe mit diesem Pferd Dinge erlebt, die nur mit gegenseitigem Vertrauen möglich sind, und wir kennen uns in- und auswendig. Eine solche wortlose Verständigung unter anderem beim Reiten ohne Sattel und Trense habe ich bisher mit noch keinem Pferd erlebt.
Sehr typisch für den Süden Chiles ist schwarzer Sand. Daher findet man diesen auch in dem kleinen Küstendorf Pelluhue, in dem ich bei meinem ersten Aufenthalt als Volunteer auf einer Hazienda gearbeitet habe. Durch das Vertrauen der Inhaber durfte ich schon sehr bald alle Strandtouren mit Touristen alleine führen und auch Mehrtagestouren in die Küstenberge leiten. Es ist ein großes Privileg, seine Leidenschaft zur täglichen Routine machen zu können, und jeder Ritt an das Weltmeer war ein Grund zum Strahlen. Es war ein tolles Gefühl, auf dem Pferderücken durch das Dorf, in dem die Bewohner immer herzensgut grüßten, oder am Strand durch das Wasser und die Dünen zu reiten. Pelluhue ist ein Traum für jeden Reiter, da an allen Stränden geritten werden darf und man eine unbeschreibliche Freiheit spürt. Es fühlt sich wie ein Schweben an, wenn man ohne Sattel und nur mit einem Knotenhalfter am Meer entlanggaloppiert und der rote Feuerball langsam am Horizont im Ozean versinkt. Dabei die Bewegung des Pferdes zu spüren, die Kraft und den Atem des Wesens, das so wunderschön ist.
Reiten bekommt hier eine ganz andere Bedeutung – in der freien Natur mit dem Pferd eins zu werden, sowohl in der täglichen Arbeit im Viehtrieb, bei der Arbeit auf dem Feld als auch bei einem Ritt am Meer. Sich bei jedem Galoppsprung im seichten Wasser frei zu fühlen ist definitiv eine wunderbare Erfahrung, die ich jedem Reiter sehr ans Herz legen kann, zumal Chile ein unbeschreiblich schönes Land ist!
Ihre Tina Neumann
Globetrotter gefragt! Kennen Sie jemanden, den die Pferdeliebe in die Ferne verschlagen hat, oder sind Sie gerade selbst im Ausland? Wir möchten mehr über Ihre Erlebnisse erfahren. Schicken Sie uns eine E-Mail an: redaktion@mein-pferd.de