Text: Nicole Audrit | Foto: Daniel Elke
In der Stallgasse wartet bereits die zwölfjährige Warmblutstute April. Ein Sturz beim Springen war für ihre Besitzerin Yvonne Essing der Auslöser, Dr. Simone Kaiser, Tierärztin mit Zusatzausbildung Veterinärchiropraktikerin, zu kontaktieren. Zunächst war die Pferdebesitzerin wenig überzeugt von alternativen Heilmethoden und griff nur auf Anraten ihres Tierarztes auf diese Therapie zurück: „Ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht an den Erfolg geglaubt, schließlich hört man immer wieder von Wunderheilern, die das Pferd angeblich durch Handauflegen heilen können. Daher habe ich zu Frau Kaiser gesagt, sie solle mich überraschen. Und genau das hat sie auch getan und mich nicht nur bei April restlos überzeugt. Die Saison, in der Frau Kaiser mein zweites Springpferd mit Akupunktur und Chiropraktik behandelt hat, war meine bislang beste – sogar erstmalig mit Platzierungen in Springprüfungen der Klasse S.“ Die Begeisterung ist verständlich, denn schließlich hat Chiropraktik nichts mit wundersamen Begabungen und unerklärlichen Spontanheilungen gemeinsam. Sie basiert vielmehr auf wissenschaftlich fundierten Techniken. Die heutige Philosophie und Methodik der Chiropraktik geht auf den Amerikaner Daniel David Palmer zurück, der 1895 die erste Ausbildungsstätte für Chiropraktik gründete. Die ersten Berichte über Techniken zur Manipulation der Wirbelsäule gab es bereits vor einigen Jahrhunderten, wobei sich die beschriebenen Methoden stark von den heutigen unterscheiden.
„Eine chiropraktische Behandlung hat zum Ziel, die vollständige Beweglichkeit und somit Funktionalität aller Gelenke, besonders der Wirbelsäule, wieder herzustellen“, erklärt Simone Kaiser. Die eingeschränkte Beweglichkeit eines Wirbels oder eines Gelenks wird in der Chiropraktik als Subluxation bezeichnet; umgangssprachlich wird häufig auch der Begriff Blockade verwendet. Teilweise entsteht diese durch einen Sturz auf der Wiese oder im Training, weiterhin können mangelnde Bewegung sowie falsches Training oder ein unpassender Sattel ursächlich sein. Ähnlich wie beim Menschen können aber auch Stress, monotone Bewegungen und eine falsche Körperhaltung ein Auslöser sein. Beispielsweise kann ein unliebsamer Boxennachbar auf einer Seite dafür sorgen, dass das Pferd immer ruckartig in diese Richtung tritt und so eine Subluxation entsteht. Besonders häufig behandelt Simone Kaiser Pferde, deren Reiter über Taktfehler, allgemeine Steifheit oder Rittigkeitsprobleme klagen.
Zwischen Feingefühl und Druck
Im ersten Moment könnte man vermuten, dass sich eine Subluxation lediglich auf den Bewegungsapparat auswirkt und diesen beeinträchtigt. Dies ist jedoch ein Trugschluss, da bereits kleinste Fehlstellungen der Gelenke der Wirbelsäule Einfluss auf das umliegende Nervensystem haben und Störungen in der Informationsweiterleitung an die Muskulatur und Organe verursachen. „Auch wenn es auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen mag, so kann eine Wirbelverlagerung für viele Krankheiten verantwortlich sein, sogar für Koliken oder Magen-Darm-Problematiken. Aufgrund der teilweise unspezifischen Symptome sollte daher immer ein Spezialist zu Rate gezogen werden“, erklärt Simone Kaiser. Die Symptome sind vielfältig, unter anderem Widersetzlichkeiten im Umgang oder unterm Sattel, muskuläre Probleme sowie Taktfehler. Da Pferde ihren Besitzern nicht verbal mitteilen können, dass sie Schmerzen haben, kompensieren sie diese häufig durch eine Art Schonhaltung. Durch diese werden jedoch wiederum andere Bereiche des Körpers vermehrt be- und teilweise auch überlastet und somit sind weitere Subluxationen oder Verspannungen die Folge. Der Zeitpunkt, wann eine Subluxation erkennbar wird, hängt eng mit dem Charakter und dem Schmerzempfinden des individuellen Pferdes zusammen: Ein empfindliches Pferd läuft schon bei geringgradigen Subluxationen nicht taktklar, wohingegen ein anderes Pferd auch mit einer Vielzahl an Problemen noch „normal“ geritten werden kann.
April wartet bislang geduldig vor ihrer Box, bis der erste Teil der chiropraktischen Behandlung, eine ausführliche Anamnese, vorbei ist. Bei dieser werden Eigenarten und Verhaltensänderungen des Pferdes sowie die gesamte Haltungsform besprochen und die Ausrüstung und der Hufbeschlag beurteilt. Anschließend wird das Pferd sowohl im Stand als auch in der Bewegung – entweder an der Longe oder unterm Sattel – begutachtet. Zu diesem Zweck wird April von ihrer Besitzerin auf dem Außenplatz in allen Gangarten vorgeritten. „Dabei achte ich vermehrt auf den Körperbau, die Bemuskelung sowie das taktreine Gangbild“, erklärt Simone Kaiser. Zurück im Stall beginnt die eigentliche chiropraktische Behandlung: Dabei wird zunächst die Beweglichkeit jedes einzelnen Wirbels nach oben, unten, links und rechts überprüft. Anders als bei vielen anderen Behandlungsmethoden, findet bei der Chiropraktik die Untersuchung zeitgleich mit der Behandlung statt: Erkennt der Therapeut eine Subluxation, wird diese direkt behoben ohne zunächst das gesamte Pferd zu untersuchen.
… den kompletten Artikel lesen Sie in der Ausgabe 5/18.